Sexueller Kindesmissbrauch: „Ein Verdacht wie eine Bombe"

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Das vom Familienministerium geförderte Modellprojekt „Wir vor Ort gegen sexuelle Gewalt“ will Missbrauchsprävention im ländlichen Raum stärken. Trägerin des Projekts ist die Deutsche Gesellschaft für Prävention und Intervention bei Kindesmisshandlung, -vernachlässigung und sexualisierter Gewalt (DGfPI). Projektleiterin Claudia Igney, Sozialwissenschaftlerin, Buchautorin und vor ihrer Tätigkeit für die DGfPI unter anderem Mitarbeiterin bei Pro Familia Niedersachsen, stand der BZ für ein Interview zur Verfügung.

Vor welchen spezifischen Herausforderungen steht die Präventionsarbeit auf dem Land?

Claudia Igney: Im Bereich sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche wird sowohl in der Prävention als auch in der Intervention bei weitem noch nicht genug getan. Das gilt auch für städtische Gebiete, aber im ländlichen Raum gibt es zusätzliche Probleme. Fachberatungsstellen versorgen oft riesige Gebiete und sind schlecht erreichbar. Dabei ist es gerade beim sensiblen Thema sexualisierte Gewalt wichtig, dass Ansprechpartner vor Ort bekannt sind. Fachberaterinnen und Fachberater sollten in jeder Schulklasse mal persönlich gewesen sein. Mit einem Projekt oder einem Theaterstück kann kindgerecht vermittelt werden, was körperliche Grenzen sind und dass es gute und schlechte Geheimnisse gibt. Gerade im ländlichen Raum geht es viel um persönliche Kontakte. Kinder müssen wissen, wo sie sich Hilfe holen können, wenn jemand ihre Grenzen verletzt. Es hilft, wenn sie sich dann erinnern: Da gibt es jemanden, den habe ich schon einmal gesehen, an den kann ich mich wenden. Dann muss aber auch Erreichbarkeit gegeben sein. Kinder können nicht ohne weiteres zu weit entfernten Bera-tungsstellen gelangen. Daher braucht es aufsuchende Beratung, etwa in Schulen, Jugendzentren und Außenstellen. Auch Online-Beratung, auf Wunsch anonym, ist wichtig. Da ist noch viel zu tun im ländlichen Raum. Weil Fachberatung eine freiwillige Leistung ist, kommt es auch immer darauf an, wie finanzstark eine Kommune ist und welche Prioritäten sie setzt.

„Kinder spüren, ob es bei dem Thema Angst und Abwehr gibt oder eine Offenheit"

Darüber hinaus ist es wichtig, immer das soziale Umfeld mit einzubeziehen. Sexualisierte Gewalt geschieht vor allem im sozialen Nahraum. Darüber zu sprechen ist angst- und schambesetzt, oft gibt es Loyalitätskonflikte. Wenn man sich bei der Feuerwehr oder im Sportverein, unabhängig von einem Vorfall, schon mal mit dem Thema auseinandergesetzt und ein Schutzkonzept erarbeitet hat, nehmen Kinder das durchaus wahr. Sie spüren, ob es bei dem Thema eher Angst und Abwehr gibt oder eine Offenheit. Alle, die mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben, müssen sich trauen, hinzuschauen und ein Kind gegebenenfalls zu unterstützen. Sie müssen wissen, wie das geht, welche Schritte einzuleiten sind. Beratungsstellen sind auch dafür da, dieses Wissen zu vermitteln.

Kindheit auf dem Lande gilt allgemein als behüteter als in der Stadt. Manche Paare ziehen auch deshalb, sobald Kinder da sind, von Hamburg in den Heidekreis. Ist die auf dem Land vermutete größere Sicherheit für Kinder, bezogen auf sexualisierte Gewalt, eine Illusion?

Das lässt sich nicht exakt beantworten, weil es schwer ist, an valide Zahlen zu kommen. Wir haben ein riesiges Dunkelfeld. Die Mikado-Studie von 2015 geht davon aus, dass sich nur etwa ein Drittel der Kinder, die sexualisierte Gewalt erleben, einem anderen Menschen anvertrauen. Jugendämter oder Strafverfolgungsbehörden erfahren laut der Studie nur von etwa einem Prozent der Fälle. Praxiserfahrung und die Studienlage sprechen aber dafür, dass der Glaube an größere Sicherheit auf dem Land tatsächlich eine Illusion ist. Sexualisierte Gewalt gibt es in allen Schichten und Regionen. Der Wunsch, dass so etwas „bei uns nicht vorkommt“, ist menschlich nachvollziehbar. Aber es wurden gerade erst große Missbrauchsfälle publik, die sich im ländlichen Raum abgespielt haben, in Staufen oder auf einem Campingplatz in Lügde. Und oft spielt ja auch der digitale Raum eine Rolle. Darstellungen von sexualisierter Gewalt gegen Kinder, sogenannte Kinderpornografie – der Begriff ist sehr verharmlosend –, kann überall hergestellt und von jedem Computer abgerufen und verbreitet werden. Das ist gar nicht mehr vom Wohnort abhängig. Die Erfahrung ist: Je offener sich Vereine, Kirchengemeinden und auch der Landkreis mit dem Thema auseinandersetzen, umso eher trauen sich Betroffene, nach Hilfe zu suchen, trauen sich Bezugspersonen, Veränderungen bei einem Kind zu hinterfragen.

Sind enge soziale Netzwerke im ländlichen Raum ein begünstigender Faktor für Kindesmissbrauch, weil die Hemmschwelle, potenzielle Täter zu benennen, besonders groß ist?

Das kommt drauf an. Kinder und Jugendliche vertrauen sich am ehesten Menschen aus ihrem sozialen Nahfeld an, zum Beispiel einer Lehrerin. Oder einer gleichaltrigen Freundin, die das dann ihren Eltern erzählt. Die engeren sozialen Kontakte im ländlichen Raum können dafür förderlich sein, wenn ein offenes Klima herrscht. Sie sind hinderlich, wenn Vorfälle totgeschwiegen werden oder die Meinung vorherrscht: „Bei uns im Dorf kann so etwas nicht passieren“. Wenn dann doch etwas passiert und publik wird, geraten betroffene Kinder und Jugendliche oder sie unterstützende Personen schnell in die Rolle von Nestbeschmutzern. Vielleicht müssen sie als Konsequenz sogar wegziehen, sich woanders ein neues Leben aufbauen. Weil ihnen angelastet wird, die Dorfgemeinschaft aufgerührt und ruiniert zu haben. Das zeigt, was für komplexe Dynamiken sexualisierte Gewalt auslösen kann, wenn ein Verdacht wie eine Bombe in eine Dorfgemeinschaft einschlägt. Wollen danach alle weiter miteinander leben, brauchen alle Seiten, auch die Familie des Beschuldigten, gute und individuelle Unterstützung. Es verschwindet niemand für immer im Gefängnis. Die Dorfgemeinschaft muss mit der Situation umgehen lernen.

Manche Landkreise, darunter der Heidekreis, führen Fachberatungsstellen in eigener Regie, mit Verwaltungsmitarbeitern. Schreckt der Behördencharakter ab, auch wegen des kurzen Drahts zum Jugendamt?

Das Jugendamt ist auf jeden Fall eine wichtige Institution, der Wächter über das Kindeswohl. Ist dieses gefährdet, muss das Amt einschreiten. Aber man muss auch bedenken, dass die Hemmschwelle für ein Kind, einen Jugendlichen oder eine Erzieherin, sich an das Jugendamt zu wenden, enorm groß ist. Es ist daher wichtig, dass Fachberatungsstellen wirklich unabhängig sind. Sie müssen für Kinder und Jugendliche und deren soziale Bezugspersonen da sein, mit der notwendigen Erfahrung und großer Fachkompetenz speziell für das Thema sexualisierte Gewalt und den damit verbundenen Dynamiken. Sie müssen ferner über ausreichend Ressourcen für Prävention und Intervention verfügen sowie für die unbedingt notwendige Vernetzung mit allen Einrichtungen vor Ort, mit Therapeuten, Kliniken, Erziehungsberatungsstellen, Polizei und Justiz. Sind alle Voraussetzungen erfüllt, ist die Trägerschaft meiner Ansicht nach nicht so entscheidend.

Lange stand beim Thema Missbrauch der Schutz von Mädchen im Fokus. Inzwischen ist stärker im Bewusstsein, dass auch Jungen Opfer sein können und Erwachsene, die als Kind missbraucht wurden, ebenfalls oft Hilfe brauchen. Ist bei jeder Gruppe eine fachlich andere Herangehensweise geboten?

Unterschiedliche Sozialisation hat nach wie vor Einfluss. Wenn Jungs lernen, dass starke Indianer keinen Schmerz kennen, ist es für sie noch einmal schwerer, sich Hilfe zu suchen. Auch Männern, die als Kind Schlimmes erlebt haben, fällt es oft enorm schwer sich einzugestehen, dass sie damit immer noch zu kämpfen haben und vielleicht Unterstützung brauchen. Und es kommt auch immer noch vor, dass sie, wenn sie Hilfe suchen, an Männerberatungsstellen verwiesen werden, die ihren Fokus aber auf gewaltausübende Männer haben, also Täterarbeit machen. Das ist natürlich unpassend. Es ist deshalb wichtig, dass Fachberatungsstellen deutlich machen, für alle Menschen da zu sein, die von sexualisierter Gewalt betroffen sind. Daneben kann es aber auch wichtig sein, weiterhin geschlechtsspezifische Angebote zu haben, zum Beispiel spezielle Beratungsstellen nur für Mädchen, Jungs oder Personen zwischen diesen Geschlechtern.

Ist sexueller Missbrauch immer noch ein Tabuthema? In den Medien wird inzwischen viel darüber berichtet.

Thematisiert wird Kindesmissbrauch seit 40 Jahren, anfangs vor allem durch die Frauenbewegung. Auch die ersten Beratungsstellen entstanden schon vor 30, 40 Jahren. Was sich in den vergangenen Jahren mit Sicherheit noch einmal verändert hat ist die gesellschaftliche Sensibilität für das Ausmaß und die Dimension. Seit um 2010 die vielen Fälle aus kirchlichen Einrichtungen bekannt wurden, ist deutlich zu bemerken, dass auf der politischen Ebene mehr an dem Thema gearbeitet wird. Und die heftigen Fälle organisierter sexualisierter Gewalt gegen Kinder, die in jüngerer Zeit bekannt wurden, haben natürlich noch einmal zusätzlich Aufmerksamkeit erzeugt. Das birgt aber auch die Gefahr, dass das Augenmerk immer nur auf diese ganz großen Fällen gerichtet wird. Aber die allermeisten Fälle ereignen sich im sozialen Nahraum. Das ist genau der Unterschied: Wenn mein Nachbar oder Pflegekind betroffen ist, der Onkel, die Trainerin oder der Vater Täter ist, dann ist das immer noch ein Tabu.

Die unmittelbare Reaktion der Politik auf die großen Missbrauchsfälle ist wieder mal die Verschärfung des Sexualstrafrechts. Bringen höhere Strafen etwas für die Prävention?

Der vorliegenden Gesetzentwurf enthält einiges, was grundsätzlich zu befürworten ist. Familienrichter sollen besser ausgebildet, Kinder in familienrechtlichen Verfahren immer angehört werden. Da hat der Gesetzgeber aus Fehlern gelernt, hat sich angeguckt, was bei den Missbrauchsfällen in Staufen und Lügde schiefgelaufen ist. Strafverschärfungen allein bringen dagegen wegen der schon angesprochenen enormen Dunkelziffer für die Prävention wenig.

„Prävention und Hilfe sind wichtiger als höhere Strafen"

Natürlich kann man argumentieren, dass höhere Strafen trotzdem ein wichtiges gesellschaftliches Signal aussenden. Dem würde ich auch zustimmen, insbesondere was die sogenannte Kinderpornografie angeht. Denn das ist kein Bagatelldelikt, da steht immer reale Gewalt gegen Kinder dahinter. Man muss sich das einmal vorstellen: Diese Kinder, Jugendlichen und späteren Erwachsenen wissen, dass Missbrauchsbilder oder -filme von ihnen, einmal ins Internet oder Darknet gestellt, nie wieder verschwinden. Die Gewalt wird praktisch fortgesetzt. Jeder, der das konsumiert oder verbreitet, beteiligt sich an diesem Verbrechen. Wichtiger als Strafverschärfung finde ich aber, mehr zu investieren in Prävention und Hilfe. Wir brauchen ein flächendeckendes Netz gut ausgestatteter Fachberatungsstellen und anderer Hilfsangebote. Jedes Kind, jeder Jugendliche, Eltern und Fachpersonen sollten – unabhängig vom Wohnort – solche Hilfe schnell und unbürokratisch bekommen können. Bis wir das erreicht haben, ist noch viel zu tun.