„Der Subtext lautet: Ich hab dich lieb“

Man darf ruhig experimentieren: Der Schneverdinger Schauspieler Michael Boltz mag es stimmungsvoll. Zu einer Casting-Show sollte das Vorlesen für die eigenen Kinder allerdings nicht mutieren.	Foto: ph

Man darf ruhig experimentieren: Der Schneverdinger Schauspieler Michael Boltz mag es stimmungsvoll. Zu einer Casting-Show sollte das Vorlesen für die eigenen Kinder allerdings nicht mutieren. Foto: ph

Michael Boltz weiß, dass das Vorlesen den Wortschatz des Kindes vergrößert, dass es seine Konzen-trationsfähigkeit steigert, sein Vorstellungsvermögen erweitert und auch seine Kreativität. Dass der Schauspieler das Vorlesen für einen nahezu unverzichtbaren Bestandteil des Familienlebens hält, hat allerdings ganz andere Gründe, wie der Schneverdinger im Interview erläutert.

„Jeder, der lesen kann, kann auch Kindern vorlesen.“ Stimmen Sie dieser Aussage zu?

Boltz: Unbedingt. Und das gilt nicht nur für Eltern. Auch ältere Geschwister können vorlesen. Oder auch umgekehrt, kleine Geschwister den großen, Kinder den Eltern. Vorlesen funktioniert in jede Richtung. Jeder kann anderen Menschen vorlesen, das ist ganz wichtig. Wenn wir das infrage stellen, wäre das ja schlimm. Wir würden Eltern, die unsicher sind, vom Vorlesen ausschließen. Und nicht nur sie, sondern auch ihre Kinder.

Nun sind Sie als Schauspieler öffentliche Lesungen gewohnt. Was ist, wenn Eltern eine Scheu vorm Vorlesen haben? Weil sie glauben, dass sie es nicht können?

Wenn ich als Schauspieler denke, dann geht es um Beziehung und Stimmungen, ich will etwas bewegen. Das ist zunächst durchaus physikalisch gemeint: Ich bewege meine Stimmbänder und damit das Trommelfell meines Zuhörers. Und das kann jeder, unbedingt. Man braucht keine Scheu vor irgendwelchen Fehlern zu haben. Ich sagen meinen Schauspielschülern immer: Es gibt jetzt kein Richtig und kein Falsch.

Und das gilt auch fürs Vorlesen?

Natürlich, wenn ich meinem Kind vorlese, bin ich doch nicht in einer Casting-Show. Beim Vorlesen geht es um Beziehung, um Gefühle und um Liebe – gerade innerhalb der Familie. Wir müssen uns frei machen von irgendwelchen Leistungsgedanken. Die Kinder erwarten das auch gar nicht von uns.

Einfach anfangen. Alles andere kommt von selbst.
— Michael Boltz

Trotzdem ist lebhaftes Vorlesen nicht jedermanns Sache. Haben Sie einen Tipp, die Hemmschwelle zu überwinden?

Einfach anfangen. Alles andere kommt von selbst.

Aber Kinder sind durch die elektronischen Medien perfekte Unterhaltung gewohnt. Damit kann ich als Vater doch nicht konkurrieren.

Das will ja auch keiner. Es geht nicht um Unterhaltung, sondern um Beziehung. Wann wird denn vorgelesen? Abends im Bett. Was soll ich da eine große Action-Show abziehen? Es geht um Kommunikation, darum, dass ich jetzt einzig und allein für mein Kind da bin, gemeinsam mit ihm in eine andere Welt eintauche. Um wunderschöne Momente. Für mich ist das übrigens ein ganz egoistisches Ding: Ich nehme mir die Zeit und ich profitiere selbst davon. Weil es auch für mich richtig schön ist.

Und was ist mit Hörbüchern?

Hörbücher sind einfach ein anderes Medium als ein Buch, aus dem ich vorlese. Davor, mit ihnen konkurrieren zu müssen, verschließe ich mich. Ich kann nicht mit Rufus Beck konkurrieren. Ich will es nicht, und ich muss es auch nicht. Als Theaterschauspieler konkurriere ich auch nicht mit dem Fernsehen. Es sind andere Medien.

Kann man sich denn von den großen Lesern etwas abschauen, sich gewissermaßen inspirieren lassen?

Natürlich. Und dabei wird man sehen, dass auch die Besten von ihnen ganz unterschiedlich lesen. Harry Rowohlt ist großartig, wenn er „Pu, der Bär“ liest. Ich dachte, er macht es wie Rufus Beck bei „Harry Potter“ und gibt jedem Charakter eine eigene Stimme. Aber das macht er überhaupt nicht. Er hat eine ganz eigene Art, seine Knatterstimme, einen eigenen Stil. Er scheint ohne Punkt und Komma zu lesen, die Wörter gehen ineinander über. Ich habe das dann auch mal ausprobiert.

Wenn ich beim Vorlesen versuche, in verschiedenen Rollen zu lesen, mag das meine Tochter nicht. „Lies mit deiner normalen Stimme“ sagt sie dann immer.

Kinder sind die härtesten Kritiker, direkt und ehrlich. Aber gerade deshalb darf ich ruhig experimentieren. Sie sagen es schon, wenn es ihnen nicht gefällt.

Welche Rolle spielen Mimik und Gestik beim Vorlesen?

Das kommt immer auf die Situation an. Ich kann für jede Figur, die ich vorlese, eine Rollenbiografie erfinden. Aber ich kann nicht auf einmal große Gesten machen wie ein Blöder, es muss schon passen, auch zu mir. Ich muss einfach authentisch sein. Es geht ja, wie gesagt, um Beziehung.

Lassen Sie die Figuren des Buches mit Ihrem Kind reden, so wie beim Theater, wenn sich der Kasper an die Zuschauer wendet?

Nein, das mache ich nicht. Wenn ich merke, jetzt driftet es ab, jetzt wird es zu unheimlich, dann greife ich schon mal ein: Und plötzlich kitzelte der Kapitän seine Mannschaft durch.

Greifen Sie in die Geschichte ein und ändern Passagen, die Ihnen nicht gefallen?

Ich bin kein Freund von Niedlichkeitsformen. Wenn da steht „das Kätzchen“ lese ich „die Katze“. Wenn eine Szene oder ein Satz unpassend ist, lasse ich auch schon mal etwas weg, wenn ich den Text rechtzeitig übersehe. Sonst muss ich schnell ein Husten einschieben (lacht). Man muss nur aufpassen, wenn das Kind das Buch dann sieht. Dann sagt es: „Da steht aber was ganz anderes“ (lacht). Viele ältere Kinderbücher haben aus heutiger Sicht längere Durststrecken. Kürzen und straffen Sie beim Lesen? Oder muss ein Kind das auch mal aushalten? Die Frage ist, ob ich das aushalten will (lacht). Ganz ehrlich: Manchmal sage ich dann: Die Stelle ist jetzt doof. Haben Sie mal Pipi Langstrumpf gelesen, im Original? Wir kennen alle die gestrafften Kinderbücher, aber die frühen Bücher von Astrid Lindgren haben echte Längen. Da überspringe ich dann auch schon mal Passagen.

Wie wichtig ist es, dass das Buch auch den Eltern gefällt? Können Sie ein Buch auch packend vorlesen, das Ihnen selbst unsympathisch ist und Sie nicht interessiert?

Unsere Große ist eine echte Vielleserin, da holen wir schon mal einen ganzen Korb Bücher aus der Bücherei. Da ist auch schon mal eins dabei, das ich der Kleinen dann vorlesen soll und bei dem ich schnell merke: Das ist nicht so richtig gut. Da spielt natürlich auch immer die Tagesform eine Rolle, aber ich sage dann schon mal: Du, das geht hier nicht so richtig voran. Wollen wir nicht ein anderes nehmen? Ich versuche aber, keine schlechte Bewertung abzugeben und biete immer eine Alternative an. Und allzu häufig sollte man es auch nicht machen, sonst verliert das Kind die Lust, und das wäre sehr schade.

Es gibt ja auch das Gegenteil, dass die Geschichte so richtig im Fluss ist. Stört dann das Nachfragen des Kindes auch schon mal die Atmosphäre? Oder sollte man das immer zulassen?

Unbedingt. Dieses Interagieren ist ein nicht zu unterschätzende Bestandteil des Vorlesens – und übrigens ein großer Unterschied zum Medium Hörbuch. Auch hier sieht man ganz deutlich, wie sehr es beim Vorlesen eigentlich um Beziehung geht.

Sind Sie als Profi zu Hause der Stammvorleser? Oder darf Ihre Frau auch mal?

Bei unserer älteren Tochter habe ich meistens gelesen. Bei unserer jüngeren liest hauptsächlich meine Frau, was ich sehr schade finde. Aber abgesehen davon, dass meine Frau wirklich schön liest, sieht man daran, dass es den Kindern selbst um Beziehung geht. Und nicht darum, dass jemand liest, der das vermeintlich am besten macht.

Monotones Vorlesen macht die Kinder ja bekanntlich müde. Ist es da nicht eigentlich kontraproduktiv, besonders spannend zu lesen?

Natürlich liest man nicht ganz so engagiert, wenn es schon sehr spät ist und das Kind eigentlich schon schlafen sollte. Aber ich kann mir keine Situation vorstellen, in denen Kinder „ruhig gelesen“ werden sollen.

Sie sollen aber zur Ruhe kommen.

Das ja. Und das Vorlesen ist eine Möglichkeit der Ruhe, für Eltern und Kind. Im Theater sprechen wir vom Subtext für eine unausgesprochene Bedeutung, für etwas, was unter einer Szene liegt. Beim Vorlesen lautet der Subtext: Ich hab dich lieb. Interview: Stefan Grönefeld