"Das Bild dieser unfassbaren Einsamkeit"

Filmszene: Sexarbeiterin Milena wartet an der Landstraße auf Freier, die schnelle Befriedigung für kleines Geld suchen. Das es sich um eine Schauspielerin handelt, die in die Rolle einer Prostituierten geschlüpft ist, wird im Film nicht kenntlich ge…

Filmszene: Sexarbeiterin Milena wartet an der Landstraße auf Freier, die schnelle Befriedigung für kleines Geld suchen. Das es sich um eine Schauspielerin handelt, die in die Rolle einer Prostituierten geschlüpft ist, wird im Film nicht kenntlich gemacht.

UPDATE: Der NDR ditanziert sich vom Film, weil wesentliche Szenen von Schauspielern nachgespielt worden sind. So haben zum Beispiel die beiden im Film auftauchenden Frauen "Milena" und "Rita" selbst niemals als Prostituierte gearbeitet. Sie spielen lediglich Szenen nach, die sich laut Filmemacherin Elke Margarete Lehrenkrauss tatsächlich so ereignet haben sollen. Diesen wesentlichen Umstand hat die Regisseurin weder im Interview mit der BZ erwähnt, noch wurde er im Film selbst kenntlich gemacht. Lehrenkrauss hat inzwischen "schwerwiegende Fehler" eingeräumt und den Deutschen Dokumentarfilmpreis zurückgegeben.

Das Orginalinterview:

Autos rauschen vorbei. Nimmt der Fahrer zur Kenntnis, was da kurz im Lichtkegel seines Scheinwerfers erscheint und dann wieder in der Dunkelheit verschwindet? Löst der Anblick etwas aus, einen kurzen Gedanken, einen beiläufigen Kommentar, belustigt, verärgert, besorgt? Wahrscheinlich nicht. Die Wohnwagen mit den Herzchen, den Lichterketten im Fenster, sind hier, an niedersächsischen Landstraßen, ein gewohnter, gewöhnlicher Anblick. Man kennt sie. Und kennt sie nicht.

Der Film Lovemobil dreht die Perspektive um. Aus dem schnellen Blick aus einem Autofenster auf ein verloren zwischen Wald und Straßenrand stehendes Mini-Bordell, einem flüchtigen Moment, wird etwas Statisches. Scheinwerferlicht, Lärm, Dunkelheit, Stille. Ein Auto nach dem anderen, zwischendurch ein Lkw. Eine endlose, ermüdende Kette. Bis einer anhält. Vielleicht ein unkomplizierter Freier, der schnelles Geld bringt. Vielleicht ein Mann, der scharf darauf ist, auf junger weicher Haut seine glühende Zigarette auszudrücken.

Lovemobil ist der erste Langfilm der freischaffenden Regisseurin Elke Margarete Lehrenkrauss. Sie stammt gebürtig aus Gifhorn, wo auch die Handlung ihres dokumentarischen Spielfilms angesiedelt ist. Heute lebt sie in Berlin. Dort stand sie der Böhme-Zeitung zur Filmpremiere 2019 für ein Gespräch zur Verfügung.

Können Sie sich noch erinnern, wie Sie Lovemobile früher, als Kind und Jugendliche, wahrgenommen haben?

Elke Margarete Lehrenkrauss: Als Kind dachte ich, die Frauen machen Camping. Ich glaube, das erzählen die meisten Eltern ihren Kindern. Ich kann mich auch noch an den Begriff „Heidefrauen“ erinnern. Später, im Teenageralter, als wir abends auf dem Weg zur Disco an den beleuchteten Lovemobilen vorbeifuhren, waren die für uns etwas Geheimnisvolles, eine absolut fremde Welt. Irgendwann war ich dann weg aus Gifhorn.

Sie studierten in der Schweiz und in Köln, verbrachten ein Jahr auf Kuba, leben heute in Berlin. Alles weit weg von den Lovemobilen. Wie kam Ihnen dennoch die Idee, einen Film ausgerechnet über dieses Thema zu drehen?

Als ich etwa 15 Jahre nach meinem Fortzug als Besucherin zurück nach Gifhorn kam und die Lovemobile wieder sah, war es nicht mehr so wie früher. Etwas wesentliches hatte sich verändert. Die Frauen, die in den Bussen saßen, kamen jetzt alle aus dem Ausland, aus Osteuropa, aus Afrika. Das hat mich schockiert, denn ich dachte sofort, dass das Frauen sind, die sich in großer ökonomischer Not befinden, die ihre Rechte nicht kennen und nicht zur Polizei gehen, wenn ihnen etwas angetan wird. Und dann das Bild dieser unfassbaren Einsamkeit. Allein im Lovemobil am Waldrand, in einem fremden Land. Und jeder fährt vorbei und fragt sich: Wer ist das? Ich habe dann angefangen zu recherchieren und mir wurde klar: Da muss ein Film draus werden. Der Film ist eben mein Medium.

++ Die Arbeiten am Film nahmen rund drei Jahre in Anspruch. Entstanden ist ein dokumentarischer Spielfilm. Die Kamera begleitet die Prostituierten Milena aus Bulgarien und Rita aus Nigeria. Die Lovemobil-Vermieterin Uschi, selbst ehemalige Prostituierte, die als Minderjährige von ihrer eigenen Mutter an Männer vermittelt wurde, sowie Freier und ein Clubbesitzer sind weitere wichtige Protagonisten.++

Prostitution ist ein verschwiegenes Gewerbe, für Außenstehende kaum zugänglich. Wie konnten Sie Menschen aus dem Milieu dazu bewegen, sich so intensiv filmisch begleiten zu lassen?

Das war schwierig und hat lange gedauert. Die Frauen haben generell große Angst vor Kommunikation mit der Außenwelt. Ein Filmteam ist so ziemlich das Letzte, was sie brauchen. Sie möchten anonym bleiben.

„Manche sprachen das erste Mal in ihrem Leben mit einem anderen Menschen darüber, was sie machen"

Aber über Uschi, die Lovemobile vermietet und im Film eine wichtige Rolle spielt, haben wir dann doch einen Zugang zu den Frauen gefunden. Wir haben sehr viel Zeit investiert, ich denke die Frauen haben gemerkt, dass sich da wirklich jemand für sie interessiert. Ich wollte Teil ihres Lebens werden, dazugehören. Manche sprachen das erste Mal in ihrem Leben mit einem anderen Menschen darüber, was sie machen. Das ist sehr intensiv, auch durch die Kamera, die auf einen gerichtet ist. Hinzu kommt die Intimität in den engen Wohnmobilen, da kommt man sich zwangsläufig nahe. Viele Frauen haben das nach einem Tag abgebrochen, einige sind auch ganz weggegangen. Bei Milena war es so, dass sie sagte: „Wenn ich in dem Film mitmache, muss ich anschließend aufhören." Das hat sie motiviert.

Sie kommen den Protagonistinnen mit der Kamera sehr nahe. Manche Szenen sind schwer auszuhalten. Frauen werden wie eine Ware behandelt, erleben übelsten Sexismus und Rassismus. Gab es Momente, in denen es Ihnen schwerfiel, die Position der passiven Beobachterin beizubehalten?

Die Frauen sind starke Persönlichkeiten, die brauchen niemanden, der sie bemuttert. Die warten nicht darauf, dass irgendwer kommt um sie zu retten. Als Filmemacherin halte ich professionelle Distanz, aber empfinde trotzdem Empathie. Wenn die Kamera aus war, haben wir viel miteinander geredet. Ich habe die Frauen als meine Teammitglieder begriffen. Nur in einer Situation habe ich mal eingegriffen und gesagt, „jetzt ist Schluss!“ Das war, als wir mit Rita in einem Sexclub filmten und ein Gast irgendwann anfing, mit seinem Smartphone laut Nazi-Lieder abzuspielen. Da habe ich den Dreh beendet.

Die Rahmenbedingungen der Sexarbeit haben sich stark verändert, Prostitution ist nicht mehr sittenwidrig. Doch Ihr Film hinterlässt den Eindruck, dass Gesetze nichts verändern. Da wird nach Sex ohne Kondom verlangt, da wollen Männer für Geld Gewaltfantasien ausleben, da beobachtet die Caravan-Vermieterin den Besuch eines Freiers, um danach sofort abzukassieren. Alles eigentlich illegal. Sind Lovemobile rechtsfreie Räume?

Lovemobile sind eine Welt für sich, mit eigenen Regeln. Gesetze, auch moralische, die außerhalb gelten, sind dort außer Kraft gesetzt. Dinge, die in unserer heutigen Gesellschaft offiziell verpönt sind, zum Beispiel offener Sexismus und Rassismus, sind in der Welt der Lovemobile normal. Das existiert mitten unter uns, nur eben völlig isoliert.

Während der Dreharbeiten wurde eine Prostituierte in ihrem Lovemobil ermordet. Wie sehr hat das Verbrechen den Film und die Stimmung verändert?

Der Mord hat alles extrem verändert. Die Stimmung ist gekippt. Viele Frauen haben die Lovemobile gemieden und versucht, anderswo zu arbeiten. Die, die blieben, hatten alle Angst. Irgendwann ist das aber wieder verflogen.

Hat der Film Ihre persönliche Einstellung zum Thema Prostitution verändert?

Wenn der Film meine Einstellung verändert hat, dann wahrscheinlich in dem Sinne, dass ich die Dinge heute noch differenzierter sehe als zuvor. Ich bin sehr offen an das Thema rangegangen und habe Sachen vorgefunden, die ich mir niemals hätte ausmalen können.

„In jedem Lovemobil eine andere Welt“

Der Film kann das gar nicht alles abbilden. Ich habe zum Beispiel auch eine deutsche Sexarbeiterin kennengelernt, die im Lovemobil frei und selbstbestimmt ihrer Arbeit nachgeht. Überhaupt habe ich die Erfahrung gemacht, dass man in jedem Lovemobil eine andere Welt vorfindet. Daher ist es so schwierig, allgemeine Aussagen zum Thema Prostitution zu machen. Mein Statement zum Thema ist der Film.

Wie stehen Sie zu der Forderung, Wohnwagenprostitution – oder gleich wie in Schweden jede Form von Prostitution – zu verbieten?

Das ist eine schwierieg Frage. Frauen sollten das Recht haben, frei über ihre Körper zu verfügen. Das ist ein feministischer Gedanke, und er steht einem generellen Prostitutionsverbot entgegen. Aber die Schwächeren im System, gerade auch in der Wohnwagenprostitution, müssen geschützt werden. Also, wenn ein Verbot, dann aus den richtigen Motiven. Nicht deshalb, weil Anwohner einen „Schandfleck“ beseitigen wollen, sondern weil Frauen vor Ausbeutung geschützt werden müssen. Ob das schwedische Modell der richtige Weg ist, kann am Ende nur die Zeit zeigen. Es kommt darauf an, die Situation der Frauen wirklich zu verbessern. Nimmt man ihnen einfach nur die Möglichkeit, im Lovemobil zu arbeiten, werden viele auf dem Straßenstrich landen. Die sind ja oft froh, wenigstens noch einen Wohnwagen als geschützten Ort zu haben.

Die Kamera kommt ihren Protagonistinnen sehr nahe.

Die Kamera kommt ihren Protagonistinnen sehr nahe.