"Meine Generation ist sich ihrer Verantwortung bewusst"

Birhat Kacar wurde im Internet beschimpft. Foto: hei

Birhat Kacar wurde im Internet beschimpft. Foto: hei

Soltau. Birhat Kacar ist gebürtiger Soltauer, sieht sich aber immer wieder rassistischen Beleidigungen ausgesetzt, vor allem in sozialen Netzwerken. Der 21-Jährige, der von Beruf Erzieher und in Soltau im Stadtrat und stellvertretender SPD-Vorsitzender ist, hält den Heidekreis trotzdem nicht für einen Hort von Rassismus. Er lobt die Polizei und sucht den Dialog in alle Richtungen. Er kritisiert aber auch die lokale AfD und zeigt sich besorgt von Alltagsrassismus und Attentaten wie in Hanau. Er verteidigt als Jeside Muslime gegen Islamfeindlichkeit.

Mal ganz pauschal gefragt: Wie rassistisch ist der Heidekreis?

Birhat Kacar: Der Heidekreis ist meiner persönlichen Wahrnehmung nach nicht rassistisch, im Gegenteil: Wir konnten beobachten, wie warmherzig und offen die Menschen auf die Flüchtlingskrise reagiert haben. Es gab viele Kleider-, Spielzeugund Fahrradspenden und Menschen, die im Einreisezentrum in Bad Fallingbostel geholfen haben. Ich habe selbst dort ausgeholfen. Natürlich gibt es in der Geschichte des Heidekreises rassistische Gruppen wie in Schneverdingen, Munster und in Walsrode. Dies ist aber Geschichte, und die Zivilbevölkerung, die sich dagegenstellt, ist größer und stärker geworden. Dass sich noch immer jedes Jahr am Osterwochenende verwirrte Gestalten wie die Ludendorffer in Dorfmark treffen, halte ich persönlich für nicht gefährlich. Ich mache mir als Erzieher aber Sorgen um deren Kinder, denen Werte und Normen aus dem 19. Jahrhundert vermittelt werden.

Gegen wen richtet sich Rassismus?

Rassismus richtet sich vor allem gegen Menschen, die einen Migrationshintergrund besitzen oder auch nur so aussehen. Das finde ich bei mir sehr witzig: Ich werde als Nichtdeutscher bezeichnet und soll zurück in mein Land gehen. Diese Menschen verstehen nicht, dass Deutschland meine Heimat ist und Soltau mein Zuhause. Hier sieht man erneut, dass Rassistinnen und Rassisten nicht weiter denken können als bis zur eigenen Haustür.

Sie haben vor einem Jahr in der Böhme-Zeitung vor allem von Beleidigungen in sozialen Netzwerken berichtet. Ist das die Bastion, in der Rassismus salonfähig ist? Sind Angriffe im realen öffentlichen Leben im Heidekreis eher die Ausnahme?

Es gibt einen Unterschied zwischen den Äußerungen auf Facebook und denen im realen Leben. Als ich vor einem Jahr während meine Erzieherausbildung bei einer Supermarktkette als Aushilfe gearbeitet habe, habe ich die Menschen getroffen, die mich täglich im Internet beleidigt haben. Diese haben starke Nervosität gezeigt, als sie mich erkannt haben und sind schnell an mir vorbei. Ich habe später im Internet lesen dürfen: „Die fette rote Socke Kacar arbeitet jetzt im Supermarkt, immerhin kriegt er es hin, Regale richtig aufzuräumen.“ Natürlich muss man als Kommunalpolitiker leider mit solchen Worten leben, ich finde sie aber respektlos. Das zeigt, dass diese Gestalten im Internet eine geringere Hemmung haben als auf der offenen Straße beziehungsweise im persönlichen Gespräch. Ich denke aber auch, dass die Hemmschwelle von Rassisten, Menschen anzugreifen, gering ist. Ich habe es nur einmal erlebt, dass ein Herr, mit dem ich auch schon vor Gericht stand, versucht hat, mich auf der Straße mit Worten wie „Ich weiß, wo du wohnst“ einzuschüchtern. Ich habe mich natürlich nie einschüchtern lassen und es ignoriert.

Ist ein anderes Problem der sogenannte Alltagsrassismus, also wegen seines Namens keine Wohnung, keinen Job zu bekommen und ähnliches?

Ja, es gibt den Alltagsrassismus in unserer Gesellschaft. Ich selbst habe ihn Gott sei dank so gut wie nie erlebt, jedoch kenne ich Freundinnen und Freunde, die aufgrund ihres Namens keine Wohnung bekommen haben oder auch nicht zum Bewerbungsgespräch eingeladen wurden. Wir haben mal mit Freunden ein Experiment durchgeführt und über Ebay-Kleinanzeigen mehrere Vermieter von Wohnungen angeschrieben, mit zwei Accounts. Einer hatte einen deutschen Namen, der andere einen arabischen. Der deutsche hat doppelt so viele Rückmeldungen bekommen.

Manche Menschen fühlen sich in Deutschland auch vom Islam bedroht. Können Sie die verstehen?

Nein, weder die von der AfD noch einer von der Antifa, der kürzlich schrieb, der Islam gehöre auf den Müllhaufen der Geschichte. Meine Eltern haben als Jesiden in Dörfern gelebt, in denen sie von Islamisten bedroht wurden, die hätten Grund dazu. Aber sie sind moderne Leute, hier haben sie islamische Freunde, Religion ist ja erst einmal etwas Persönliches. Natürlich muss man den politischen Islam bekämpfen, genauso wie christlichen Fundamentalismus. Aber es gibt in Deutschland keinen gesellschaftlichen Bereich, der vom Islam beeinflusst wird.

Es gibt ja Studien, dass es in den meisten Gesellschaften eine Art rassistischen Bodensatz von 10 bis 20 Prozent gibt. Denken Sie, dass der in der hiesigen Region unterschwellig vorhanden ist und in anderen Regionen Deutschlands deutlicher auftritt?

Wenn es diese Gedanken gibt, hält eine viel größere Prozentzahl aus der Gesellschaft dagegen, und das sollte eher in den Vordergrund gerückt werden: Im Heidekreis hat Rassismus keinen Platz. Und ja, ich erlebe einen starken Unterschied zwischen West und Ost, auch wenn ich keine Vorurteile verbreiten will. Ich habe aber viele Freunde im Osten, die dort Probleme haben. Während es in Bundesländern wie Sachsen-Anhalt und Sachsen stärkere rechte Strukturen und Gruppierungen gibt, sind sie in Niedersachsen meiner Wahrnehmung nach geringer, jedoch nicht zu unterschätzen.

Gibt es rassistische Gruppen auch im Heidekreis, in denen man fremdenfeindlich sein kann, und die dann auch nach außen hin auf der Straße oder parteipolitisch auftreten?

Wenn ich mir AfD-Politikerinnen wie Heidrun Horn ansehe, die Faschisten wie Björn Höcke unterstützt, dann würde ich auch sie und ihren Ehemann und AfD-Fraktionsvorsitzenden Bernhard Schielke im Soltauer Stadtrat als deutlich rechts einschätzen. Es gab zudem vor einigen Jahren die Gruppe „Heidekreis – gemeinsam sind wir stark“, die in Soltau ein Sammelbecken für Rassisten aller Art wurde. Von Snevern Jungs bis NPD über AfD und bekannten Neonazis aus Dorfmark waren alle in dieser Gruppe vertreten. Diese haben damals gegen die Flüchtlingspolitik demonstriert, verpackt in angeblich demokratische Ziele. Völlig daneben. Diese hat sich zum Glück irgendwann selbst aufgelöst.

Wie groß ist Ihre Sorge, dass Drohungen oder auch Attacken gegen Politiker und terroristische Akte von rechts noch zunehmen?

Ich muss zugeben, auch mich lässt nicht kalt, dass es immer häufiger fremdenfeindliche Anschläge in Deutschland gibt. Ich denke an den Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, an den Anschlag in Halle. Aber auch an Drohungen wie auf den SPD-Bundestagsabgeordneten Karamba Diaby aus Halle finde ich schrecklich, das muss mit aller gesetzlichen Härte bestraft werden. Ich habe die Befürchtung, dass diese Angriffe und Attentate noch häufiger vorkommen, durch eine Verrohung der Sprache durch die AfD oder auch soziale Medien, in denen Menschen einfach schreiben können, was sie wollen. Zwei Cousinen von mir waren zur Tatzeit in einer der Shisha-Bars in Hanau und mussten die Angriffe miterleben. Die Anschläge in Hanau richteten sich gegen Menschen, die einen Migrationshintergrund haben oder so aussehen. Für mich war das ein Schock, von dem ich mich noch nicht erholt habe, obwohl ich davon selbst sonst nicht betroffen war.

In den USA gab es ja einen erneuten Diskurs gegen Rassismus, nachdem George Floyd getötet wurde und ein Handyvideo die Gewalt der Polizei gezeigt hat. Wie kann man bewirken, dass diese Debatte nicht immer nur wenige Wochen nach einem solchen Fall dauert und dass sich wirklich etwas ändert?

In den USA ist dies nicht seit George Floyd ein Problem, sondern seit Jahrhunderten. Mit einem verantwortungslosen Präsidenten wie Donald Trump wird das Thema Rassismus in den USA nie aufgearbeitet werden können, dafür brauchen die USA erst einmal ein Staatsoberhaupt, das auch die Würde und die Kompetenz hat, dieses Thema aufzuzeigen.

In Deutschland endete vor 75 Jahren die Naziherrschaft. Wie kann sich Deutschland dieses schlimmen, aber eben auch mahnende Erbes bewusst bleiben? Haben Sie den Eindruck, dass es bereits in den Hintergrund rückt, auch in Ihrer Altersgruppe?

Ich bin 1998 in Soltau geboren. Ich habe also weder etwas von einer Naziherrschaft noch von einem zerstörten Deutschland gesehen oder erlebt, und darüber bin ich glücklich. Ich weiß jedoch, dass ich als deutscher Staatsbürger mein Leben lang eine Verantwortung trage, dass so eine Schande nie wieder passiert. Ich denke, dass vor allem meine Generation sich ihrer Verantwortung bewusst ist und nicht zum Beispiel Faschisten wie Björn Höcke folgt, die eine 180-Grad-Wandlung fordern.

Sie haben in der Böhme-Zeitung vor einem Jahr das Angebot gemacht, mit Gegnern einen Dialog aufzunehmen. Hat das Früchte getragen, oder sind Sie davon abgekommen?

Ich habe einen langen, spannenden Abend mit zwei netten Menschen verbracht, an dem wir deutliche Differenzen festgestellt haben, aber am Ende sogar per du aus den Gesprächen rausgehen konnten. Verschiedene Meinungen sind richtig und wichtig, jedoch sollte man nicht mit persönlichen Streitereien am Ende aus einer Debatte kommen. Ich habe mit Absicht das Gespräch mit den zwei Leuten dis- kret gehalten, weil es mir nicht darum geht, Werbung für den Kommunalpolitiker Birhat Kacar zu machen, sondern um die menschliche Geste, einen eigentlich nicht vorhandenen Streit zu schlichten. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat in Reden aufgerufen, den Menschen mehr zuzuhören, mehr zu reden, mehr zu diskutieren, statt zu streiten und zu beleidigen. Dem bin ich gefolgt. Auf mein damaliges Interview haben sich allerdings leider nicht die Menschen gemeldet, die ich als rassistisch bezeichnen würde, die haben versucht, mich als lächerlich darzustellen und als unreif, weil ich sie eingeladen habe. Ich habe den Menschen aber geschrieben, dass mein Angebot weiter besteht und sie gern mit mir statt über mich reden können.

Zuletzt kamen rechtsextreme Strukturen in der BundeswehrEliteeinheit KSK ans Licht. Fälle von Racial Profiling soll es auch bei der deutschen Polizei geben. Auch das Räderwerk im Heidekreis – ein Zusammenschluss verschiedener Behörden inklusive der Polizei – wurde kritisiert, einseitig vorzugehen. Andererseits wurden Polizisten, zuletzt in Stuttgart, selbst das Ziel von Angriffen. Wie sehen Sie die Rolle der Bundeswehr und der Polizei in Deutschland? Sie haben bisher Soldaten und Polizisten grundsätzlich verteidigt.

Und genau dies wiederhole ich: Ich bin nicht der Meinung, dass wir eine rechte Polizei haben oder eine rechte Bundeswehr, es gibt Probleme, aber keine allgemeinen rechten Strukturen. Im Gegenteil: Ich bin stolz und froh, dass ich im Land mit der modernsten und stärksten Polizei weltweit lebe. Ich habe fast immer die Polizei als respektvoll und freundlich erlebt, auch auf Demonstrationen, zum Beispiel gegen Nazis in Bad Nenndorf vor vielen Jahren. Ich halte nichts davon, einige wenige Rechte – die wir überall haben, auch in meiner Partei, in Religionen, in der Gesellschaft – zu benutzen, um die gesamte Polizei als rechts zu bezeichnen. Natürlich, rechte Polizisten gehören aus dem Dienst und haben nichts in einem Beamtenverhältnis verloren. Aber ich weigere mich zu behaupten, dass alle Polizistinnen und Polizisten rechts sind. Das ist Unfug.

Interview: Holger Heitmann