Gleichberechtigung: „Es könnte auch eine Rolle rückwärts geben“

Männer und Frauen sind gleichberechtigt, heißt es im Artikel 3 Grundgesetz. Die Verfassungswirklichkeit hinkt dem in vielen Bereichen immer noch hinterher

Männer und Frauen sind gleichberechtigt, heißt es im Artikel 3 Grundgesetz. Die Verfassungswirklichkeit hinkt dem in vielen Bereichen immer noch hinterher

Das 1993 verabschiedete Landesgesetz, mit dem niedersächsische Städte und Gemeinden erstmals zur Einstellung von Frauenbeauftragten verpflichtet wurden, war umkämpft. Zahlreiche Gebietskörperschaften, darunter der damalige Landkreis Soltau-Fallingbostel, klagten vor dem Staatsgerichtshof. Vergebens. Das Gesetz blieb und wurde weiterentwickelt. Seit 2005 heißen die ehemaligen Frauenbeauftragten Gleichstellungsbeauftragte und sind auch für geschlechterspezifische Benachteiligungen von Männern zuständig. 2016 wurden Kommunen mit mehr als 20.000 Einwohnern verpflichtet, Gleichstellungsbeauftragte wenigstens halbtags hauptamtlich einzustellen.

Im Heidekreis bekleidete das Amt von Dezember 1996 bis Ende 2020 Gudrun Schenk. Die BZ sprach mit ihr im Sommer über den oft mühsamen Kampf für Geschlechtergerechtigkeit.

Wo steht der Heidekreis in Sachen Gleichberechtigung?

Gudrun Schenk: Die Verleihung des Gender Awards 2016 war ein Riesenerfolg. Den haben wir als einziger Landkreis in ganz Deutschland bekommen. Andere Preisträger waren Städte wie Freiburg oder Köln. Mit denen konnten wir uns messen. Das lag daran, dass ich die ganze Verwaltung einbezogen habe. Allein wäre ich aufgeschmissen gewesen. 2002 beschloss der Kreistag das „Leitbild Geschlechtergerechtigkeit“. Chancengleichheit muss nun immer mitbedacht werden. Bei allen Verwaltungsvorlagen erfolgt eine Chancengleichheitsprüfung, alles landet auf meinem Tisch. Setze ich keinen Haken, geht es nicht weiter. Zum Beispiel, weil eine Satzung nicht geschlechtergerecht formuliert ist. Oft sind Benachteiligungen aber weniger offensichtlich. Wenn etwa Fortbildungen des Jobcenters für unter 25-Jährige zu 80 Prozent von Männern in Anspruch genommen werden, obwohl sie nur 50 Prozent der Hilfebedürftigen stellen, ist zu erforschen: woran liegt das? Stelle ich fest, dass von den Frauen viele alleinerziehend sind, kann ich Fortbildungen halbtags anbieten. Anderes Beispiel: Ein Jugendzentrum wird eingerichtet, um Jugendliche von der Straße zu holen. Auf der Straße finde ich wahrscheinlich zu 80 Prozent junge Männer. Dann muss ich fragen: Wo sind die jungen Frauen? Wie kriege ich auch sie?

Wo sehen Sie die größten Defizite im Heidekreis?

Zur Personalsituation muss ich fast nichts sagen: Wenn beim Heidekreis von sieben Fachbereichsleiterstellen eine mit einer Frau besetzt ist, so ist da noch Luft nach oben. Und dann die Kommunalparlamente. Fast vom ersten Mentoringprogramm zur Förderung von Frauen in der Kommunalpolitik an machen wir als Landkreis mit. Unsere Landtagsabgeordnete Gudrun Pieper war mal ein Mentee, in einem anderen Landkreis auch Ursula von der Leyen. Aber was den prozentualen Frauenanteil in den Parlamenten angeht, sehen wir nach jeder Wahl aufs Neue: da tut sich nichts. Die Mentoringprogramme werden uns vor jeder Wahl vom Ministerium aufs Auge gedrückt und in der Evaluation heißt es dann: Hunderte Teilnehmerinnen, tolles Programm! Aber voran kommen wir nicht. Da weiß ich auch keinen Hebel. In diesem Jahr hatten wir mit dem Landkreis Celle eine Fortbildungsreihe für Frauen entwickelt, die vielleicht kandidieren wollen. Das entfiel wegen Corona. 2021 zur Kommunalwahl wird die Reihe nachgeholt, unabhängig von den Wahllisten, die dann schon feststehen.

Das Ehrenamt ist oft weiblich. Nur in der Politik nicht. Warum?

Vielleicht ist Politik doch oft abschreckend. Ich will nicht sagen, dass das nur für Frauen gilt. Aber wenn ich mir die Weltpolitik anschaue: da machen Männer anders Politik als Frauen, ganz anders. Schauen Sie sich Merkel an und auf der anderen Seite Trump, Erdogan oder Putin. Und wenn ich dann ein Parlament wie unseren Kreistag sehe, mit 80 Prozent Männern, dann ist die Hemmschwelle für Frauen vielleicht einfach zu groß. Da gibt es nicht genügend weibliche Vorbilder. Da beißt sich die Katze in den Schwanz. Wie soll man das aufbrechen?

In einer Correctiv-Befragung unter Lokalpolitikerinnen in NRW gaben 60 Prozent der Frauen an, in ihrer politischen Arbeit schon Diskriminierung aufgrund des Geschlechts oder Sexismus erlebt zu haben. Nehmen Sie so etwas auch im Heidekreis wahr?

Ich erlebe bei Redebeiträgen in den Ausschüssen, manchmal auch im Kreistag, wie Frauen abgewürgt werden. Oder so ein Schmunzeln in den Gesichtern der Männer, während Frauen reden. Offene Diskriminierung ist das aber nicht. Zu Sexismus kann ich nichts sagen. Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz war in der langen Zeit meiner Tätigkeit als Gleichstellungsbeauftragte nie ein Thema. Ich gehe davon aus, dass Frauen, die auf dem Dorf mit Schützenfest und Feuerwehr groß geworden sind, sich zu wehren wissen. Die machen kein großes Geschrei darum.

Was müsste sich ändern für mehr Frauen in den Räten?

Frauenquoten und Paritätsgesetze können helfen. Für mich persönlich hätte es aber einen unschönen Beigeschmack, etwas mit Zwang und gesetzlichen Regelungen zu erreichen. Da gefällt mir dieses Zitat von Heidi Kabel viel besser (Schenk lacht und zeigt auf ein Plakat in ihrem Büro mit einem Ausspruch der 2010 verstorbenen Volksschauspielerin: „Die Emanzipation ist erst dann vollendet, wenn auch einmal eine total unfähige Frau in eine verantwortliche Position aufgerückt ist“).

Was kann außer Mentoringprogrammen noch getan werden für mehr Frauen in den Räten und Kreistagen?

Da müsste man weit ausholen, etwa indem man in Familien die Arbeitszeiten anders verteilt. Wenn Vater und Mutter 30 Stunden in der Woche arbeiten und ihre Jobs gleichwertig sind, dann ist es nicht mehr so selbstverständlich, dass die Frau zu Sitzungszeiten zu Hause bleibt, um die Kinder zu hüten. Aber so weit sind wir noch lange nicht. Trotz aller Gleichstellungsbemühungen seit Jahrzehnten: Wenn der Mann abends in den Kreistag geht, dann geht er. Wenn die Frau in den Kreistag gehen will, muss sie erst einmal die Kinder unterbringen. Bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist ein ganz wichtiger Punkt.

Wenn wir uns nach zwei, drei Legislaturperioden, in 10 oder 15 Jahren, noch einmal sprechen: Glauben Sie, dass dann deutlich mehr Frauen in den Räten und im Kreistag sitzen werden?

Dass der Frauenanteil deutlich steigt, wir in 10 oder 15 Jahren bei 45 oder 50 Prozent liegen, glaube ich nicht. Dass er ganz langsam steigt und nicht, wie bei der letzten Bundestagswahl, sogar noch weiter sinkt, hoffe ich sehr. Bei allem, was sich in der Coronakrise wieder an alten Rollen- und Familienbildern zeigt, könnte es aber auch eine Rolle rückwärts geben.