Gender-Debatte: „Wertschätzung steht im Mittelpunkt"

Für die einen ein ernstes Anliegen, für andere nur „Gender-Gaga”: Ein Aufkleber auf einem Verkehrsschild macht aus Anlieger Anlieger*innen. Foto: ari

Für die einen ein ernstes Anliegen, für andere nur „Gender-Gaga”: Ein Aufkleber auf einem Verkehrsschild macht aus Anlieger Anlieger*innen. Foto: ari

Ob es um gendernde TV-Moderatorinnen oder die vermeintlich verletzende Wirkung harmlos scheinender Begriffe wie „Indianerhäuptling“ geht: In Deutschland wird heftig über Sprache und Identität diskutiert. Verliert die Sprache in der individualisierten Gesellschaft ihre einigende Kraft? Fakt ist: Sie stiftet statt Einheit immer öfter Zwietracht.

Die BZ hat sich des Themas im Rahmen ihrer Serie zu den Megatrends angenommen und dabei unter anderem ein Interview mit Professorin Konstanze Marx geführt. Sie bekleidet an der Philosophischen Fakultät der Universität Greifswald den Lehrstuhl für Germanistische Sprachwissenschaft und ist seit diesem Monat als Prorektorin der Uni auch für die Bereiche Kommunikationskultur und Gleichstellung verantwortlich. Die BZ sprach mit ihr über Sprachwandel und die Genderdebatte.

Frau Marx, dass Sprache sich weiterentwickelt, ist eine Binse. Aber das Tempo, in dem das geschieht, empfinden viele Menschen als etwas Besonderes. Ist das noch natürlicher Sprachwandel oder erleben wie etwas historisch Neues?

Prof. Konstanze Marx: Ich kenne keine empirischen Belege dafür, dass viele Menschen das Tempo, in dem sich ein Sprachwandel vollzieht, als etwas Besonderes erleben. Der Eindruck, dass das Tempo hoch ist, kann natürlich dadurch entstehen, dass es in den letzten Jahren durchaus eine rasante Entwicklung von neuen Technologien gab und gibt, die benannt und in unser Sprachrepertoire aufgenommen wurden. Hinzu kamen 2020 viele eher fachspezifische Begriffe aber auch kreative Wortneubildungen, die durch die Corona-Pandemie Eingang in den alltäglichen Sprachgebrauch fanden. Der Eindruck, dass Menschen dieses Tempo als besonders erachten, kann dadurch entstehen, dass mit den sozialen Medien Plattformen zur Verfügung stehen, auf denen Sprachreflexion, also die Diskussion über Sprache, sicht- und nachvollziehbar wird. Das hatten wir vorher ja in diesem Ausmaß nicht.

Sahra Wagenknecht, Wolfgang Thierse und andere sehen den gesellschaftlichen Zusammenhalt bedroht, weil verschiedene Sprachmilieus sich immer weiter voneinander entfernen würden. Teilen Sie diese Sorge?

Wir sprechen alle eine Sprache, bedienen uns aber je nach Situation unterschiedlicher Register. Dafür sind schon Kinder sensibilisiert. Sie wissen genau, dass sie eine Lehrerin anders adressieren sollten als Freunde oder ihre Eltern. Das gehört zu unserer pragmatischen Kompetenz. Worauf sich die Beobachtung stützt, dass verschiedene Milieus sich sprachlich stark auseinander entwickeln, würde mich schon interessieren. In der frühen Soziolinguistik gab es den Impuls, Sprachbarrieren mit unterschiedlichen sozialen Schichten in Verbindung zu bringen. Dem wurde schon in den 70er-Jahren mit fundierter Kritik widersprochen.

Was sich empirisch belegen lässt, sind Vorbehalte gegen das Gendern. In Umfragen spricht sich eine Mehrheit dagegen aus. Trotzdem scheint sich das Gendern immer weiter auszubreiten. Da kann das Gefühl aufkommen, von ungewollten Sprachneuerungen quasi überrollt zu werden.

„Das Gendern breitet sich immer weiter aus“ klingt sehr bedrohlich. Der Gedanke dahinter ist doch ein sozialer, verbindender. Es geht nicht um Trennung, sondern im Gegenteil darum, Menschen zueinander zu bringen. Beim Gendern steht Wertschätzung im Mittelpunkt, es geht darum, Bedarfe des Gegenübers wahrzunehmen und in die Beziehungsgestaltung einzubinden. Damit soll Diskriminierung abgebaut werden, die zweifelsohne in vielen diskursiven Mustern tradiert wird. Eine adäquate Adressierung ist einer von vielen Schritten in diese Richtung, ein Schritt auch zur Sichtbarmachung. Das ist ein wichtiger Aspekt für den Zusammenhalt der Gesellschaft.

Gendern wird von Kritikern gern als unwichtig abgetan, gleichzeitig verlaufen Debatten oft so emotional und aggressiv, als ginge es um alles. Gendernde TV-Moderatorinnen wie Petra Gerster und Anne Will berichten von teils hasserfüllten Reaktionen. Woher kommt das?

Woher der Hass kommt, der in den sozialen Medien insbesondere Frauen entgegen schlagt, wüsste ich auch gern (seufzt). Das ist eine sehr wichtige, aber keine linguistische Frage. Die Reaktionen, die Gendern auslöst, sind häufig unverhältnismäßig. Gendern kann also Auslöser für Hass sein, ist aber vermutlich nicht dessen Ursache. Gut nachvollziehbar ist, dass Menschen verunsichert sind, wenn etwa am Arbeitsplatz Leitlinien zur geschlechtergerechten Sprache eingeführt werden. Sie stehen dann vor der Aufgabe, Modifizierungen für bestimmte sprachliche Formen kennenzulernen und umzusetzen. Das generiert durchaus viele verständliche, häufig ganz praktische Fragen und auch Irritationen, denen aber zugewandt begegnet werden kann.

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„Gendern kann Hass auslösen, ist aber nicht dessen Ursache”

Prof. Konstanze Marx, Sprachwissenschaftlerin

Verändert Sprache Realität oder bildet sie diese nur ab?

Das sollte man zusammen denken. Es stimmt zum Beispiel nicht, dass das generische Maskulinum früher Männer und Frauen gleichermaßen abbildete. Bei genauerer Betrachtung meint diese historisch gewachsene Sammelbezeichnung vorwiegend Männer. Es war einfach so, dass die meisten wichtigen Ämter von Männern bekleidet wurden und die maskulinen Adressierungen daher tatsächlich zutrafen. Wie Damaris Nübling zeigen konnte, gibt es aus dem Mittelalter nämlich Belege dafür, dass durchaus auf beide Geschlechter verwiesen wurde. Darüber hinaus haben psycholinguistische Studien, häufig Reaktionszeitmessungen, ergeben, dass Frauen bei der Verwendung des generischen Maskulinums tatsächlich nicht mitgedacht werden. Das ist bei Kindern wie bei Erwachsenen so und kann dann dazu führen, dass Mädchen bestimmte Berufsgruppen für sich nicht in Betracht ziehen, Frauen sich von Stellenanzeigen in der Art, wie sie früher oft formuliert wurden, nicht angesprochen fühlen.

Bildet sich ein verbindlicher Gender-Standard heraus, oder bleibt es bei diversen Schreib- und Sprechvarianten nebeneinander?

Alle Varianten haben Vor- und Nachteile. Sonderzeichen wie der Medio- oder auch der Doppelpunkt sind eigentlich für andere Funktionen reserviert. Die Beid-Nennung nimmt viel Raum ein und blendet das dritte Geschlecht aus. Beim Entgendern nach Phettberg, bei dem eine Y-Endung angehängt wird, tritt ein oft unpassender Verniedlichungseffekt ein. Ich denke, dass der Rechtschreibrat, der die Entwicklung beobachtet, irgendwann auf der Grundlage empirischer Daten eine Empfehlung aussprechen wird.

Sie befürchten nicht, dass es ein sprachliches Rollback geben könnte?

Ich befürchte gar nichts, die Sprachwissenschaft beobachtet, beschreibt, erklärt Entwicklungen. Ich gehe schon davon aus, dass eine Sensibilisierung für das Thema stattgefunden hat, vielleicht ist es irgendwann einfach nicht mehr der Rede wert, weil Menschen es in den natürlichen Sprachgebrauch übernommen haben.

Wie ist das bei den Studentinnen und Studenten?

Dort wird größtenteils ganz selbstverständlich gegendert – auch mündlich. Es gibt durchaus auch schriftliche Arbeiten, in denen keine geschlechtergerechte Sprache verwendet wird. Grundsätzlich scheint Gendern aber der Normalfall zu sein und keine große Sache.