Vierfachmord: Nach dem Schock kommen die Tränen

Kerzen, Blumen, Herzchen-Zettel – die Menschen in Westervesede zeigen ihre Trauer auch am Tatort. Foto: bk

Andachten in Westervesede und Brockel helfen, die Trauer zu kanalisieren

Am vergangenen Mittwochabend hat Westevesede in einer Andacht der beiden ermordeten Mitbürger gedacht. Der kleine Ort kurz hinter der Kreisgrenze des Heidekreises war in der Nacht auf den 1. März durch die Bluttat eines Soldaten tief geschockt worden. Der getötete 30-Jährige gehörte dem Ortsrat an und hatte gerade erst zur Gründung einer örtlichen Kinderfeuerwehr mit beraten.

Der mutmaßliche Täter, ein 32-jähriger Scharfschütze des Fallschirmjägerregiments 31 mit Einsatzerfahrung in Afghanistan, hatte zunächst in Westervesede den 30-Jährigen und dessen 55-jährige Mutter erschossen, ist dann rund acht Minuten weiter nach Brockel gefahren, wo er eine weitere Frau und deren dreijähriges Kind erschoss, um sich anschließend dem Wachpersonal der nächstgelegenen Kaserne zu erkennen zu geben und zu stellen. Hintergrund der Tat ist offenbar die Trennung von seiner Partnerin, die zuletzt mit dem getöteten Westerveseder liiert war. Gegen den Täter lag bereits mindestens eine Anzeige wegen Bedrohung vor. Von seiner Tat hat ihn das nicht abgehalten. Vier Menschen sind tot.

Trauer überwindet Distanzen

Um den Schock verarbeiten und die Trauer um die Mitbewohner in Westervesede in eine Gemeinschaftserfahrung kanalisieren zu können, hat Pastorin Johanna Schröder aus der St.-Lucas-Kirchengemeinde Scheeßel mit den Bewohnern des Dorfes und des Umlands eine Trauerandacht gehalten. Dieser Abend in Westervesede gilt nicht dem Täter, er gilt den Toten, den Hinterbliebenen und der Trauer des knapp 700 Einwohner umfassenden Dorfes.

Noch kurz vor der Andacht zeigen sich die rund 200 Trauernden im Umfeld der Kapelle in gedämpfter aber durchaus positiver Stimmung. Der Schock über die Tat, er ist trotzdem noch da. „Wir sind wohl dankbar für das Miteinander“, schätzt ein junger Mann die Situation unsicher ein. Dann strömen die Menschen in die Kapelle, kein Stuhl bleibt frei. Musik eröffnet die Andacht – und erst jetzt lösen sich bei vielen die Tränen. Diese Tränen sind es dann auch, die Pastorin Schröder zum ersten Brückenpfeiler ihrer Andacht macht, um von dort die Brücke zur Hoffnung zu schlagen.

Dem Vater-unser-Gebet schließen sich auch Menschen an, die – so wirkt es – schon lange nicht mehr diese Worte gesprochen haben. Die Worte wirken hier wie ein verbindendes Band eines Dorfes, das in diesem einen Moment alles ablegt, was vielleicht zuvor Distanz bedeutet hat. Der gedankliche Fokus gilt den Toten und Menschen neben einem.

Seelsorge hat in Westervesede und Brockel viel zu tun

Zum Ende der Andacht entzünden die meisten eine Kerze. Mitglieder des Ortsrats sammeln am Ausgang für die Opferfamilie. Die Gespräche derjenigen, die die Kapelle verlassen, bleiben gedämpft. Die sonst am Rande von Bestattungen oft vorkommende Fröhlichkeit von Trauergemeinschaften, die in Erinnerungen an einen Verstorbenen schwelgen, gibt es hier nicht. Die beiden Toten wurden vor ihrer Zeit gewaltsam aus dem Leben gerissen. Und sie werden auch noch nicht zur letzten Ruhe geleitet.

„Wir versuchen, Menschen zu begleiten, wenn sie zu uns kommen, drängen uns aber nicht auf“, berichtet Schröder zur aktuellen Seelsorge, die nicht nur sie, sondern mehrere Kolleginnen und Kollegen derzeit seitens des Kirchenkreises anböten. Dabei sei man selbst Mensch und von Gefühlen nicht frei. „Diese eigenen Gefühle muss auch der Geistliche zulassen, ohne dass diese dominieren, um die Seelsorge zu ermöglichen“, erklärt Schröder. Vier Morde. Das stelle auch für die Seelsorger eine besondere Herausforderung dar. „Wir öffnen für die Trauer Räume, auch zeitliche Räume.“

Kerzen und Blumen am Tatort, der von der Polizei auch jetzt noch gesichert wird, zeugen von dem Bemühen, irgendwie mit dem Unfassbaren und dem Schock umzugehen. In Westervesede wird die Trauer noch länger anhalten und die Fröhlichkeit erst nach und nach zurückkehren. Die Andacht hat gezeigt – wer hier trauert, der ist nicht allein. Die zweite Andacht in Brockel fand in der Heilig-Kreuz-Kirche statt.

Kein Platz in der Westerveseder Kappelle bleibt während der Andacht für die Ermordeten frei. Foto: bk

Waffen nicht aus Bundeswehrbeständen

Unmittelbar nach den Morden von Westervesede und Brockel stand die Frage im Raum, ob die Tatwaffen aus den Beständen der Bundeswehr stammt. Inzwischen steht fest, dass das nicht der Fall ist. Laut Polizei waren es ein Sturmgewehr des Herstellers Heckler & Koch MR 308 und eine Pistole der Marke SIG Sauer. Beide sind nach Angaben des Landkreises Rotenburg auf den mutmaßlichen Täter, der als Sportschütze aktiv war, ordnungsgemäß registriert – zudem eine „halbautomatische Flinte, Kaliber 12/76, Benelli M4 Super 90 TS“. Die Besitzkarte wurde im Februar 2020 ausgestellt und im November 2020 ergänzt.