Philosoph Seubert: „Freiheit ist nicht selbstverständlich“

Fragt sich, wie diese Welt und Europa 2030, 2040 aussehen soll: Philosoph Prof. Harald Seubert.

Fragt sich, wie diese Welt und Europa 2030, 2040 aussehen soll: Philosoph Prof. Harald Seubert.

Professor Dr. Harald Seubert lehrt Philosophiegeschichte an der Freien Theologischen Hochschule Gießen und ist Dozent der Hochschule für Politik in München. Im BZ-Gespräch erklärte der Philosoph und evangelische Theologe 2017, welche Herausforderungen auf Deutschland und Europa zukommen und was Bürger mit Blick auf das Friedensprojekt Europa und den gesellschaftlichen Frieden in Deutschland von Politikern erwarten können sollten.

BZ: Unsere Gesellschaft wirkt durch Faktoren wie Europakrise, Terror, Migration verunsichert. Kann die Philosophie der Politik einen Weg da durch weisen?

Seubert: Die Philosophie stellt die großen Fragen für die Gesellschaft und die Politik: Was ist das gemeinsame Gute, was hält die Gesellschaft zusammen? Was sind die übergreifenden Interessen, die bei allen Unterschieden eine Demokratie, eine Republik noch ausmachen, sie bestimmen? Was ist die Legitimation von Herrschaft, wie reagiert man auf Gewalt und die Frage: Was sind Grenzen, wie sichern wir diese? Die Philosophie hat seit Platon über Kant und Hegel zu den Klassikern zudem die Frage behandelt, wie stehen Rhetorik und Wahrheit zueinander. In diese tief philosophischen Frage stößt der Umstand, dass wir heute gar nicht mehr unterscheiden können und vielleicht auch sollen zwischen Verschwörungstheorien, Fake News, alternativen Fakten und den eigentlichen Realitäten. Das sind wahrlich große Herausforderungen. Die politische Klasse, die nicht immer die geistigen Anforderungen erreicht, muss sich wieder mit den klassischen, ewigen Parametern, also den zuvor genannten Fragestellungen befassen. Gerade in einer so umtriebigen und verwirrten Zeit müssen einige feste Pfähle eingeschlagen werden.

Was sind das für Pfähle?

Platon stellt schon die Frage: Was ist die Legitimation von Herrschaft? Legitimiert sie sich aus der Meinung der vielen, oder legitimiert sie sich auch aus einer Sachgerechtigkeit heraus, die weitsichtig über Tag und Stunde hinaus blicken kann. Das wäre ein Element, das man in den Werdegang eines Politikers mit einbeziehen müsste. Die politische Entscheidung muss langfristige Planung – über Wahltermine hinaus – berücksichtigen. Das kann bis in Computersimulationen hinein münden, die je nach gewählter Option einen Überblick über Veränderungen und Auswirkungen verschaffen. Gerade weil die Zeit im Umbruch und so gefährlich ist, muss ich eine Grundvision haben, die weiter reicht. Da würde ich auch vom verehrten Helmut Schmidt abweichen, der sagte, wer Visionen habe, der solle zum Arzt gehen.

Frieden ist doch eine solche Vision, oder?

Natürlich. Immanuel Kant wirft die Frage nach dem ewigen Frieden auf. Auch das ist eine große Vision, eigentlich sogar eine Utopie. Doch Kant meint das gar nicht utopisch. Er meint, es kann durchaus ein Völkerbund aus gewaltenteilenden Republiken bestehen, der der Welt den Taktschlag vorgibt. Das hat der alte Völkerbund nicht geschafft, das schafft auch die Uno nicht. Die großen Philosophen haben allerdings keine Rezepte. Es handelt sich insoweit um Leitideen.

Braucht auch Europa solche neuen Leitideen?

Europa auf Vereinigte Staaten im Sinne eines Hyperstaates hinzustilisieren, halte ich jedenfalls für einen Irrweg. Da bin ich mit Peter Graf Kielmansegg auf einer Linie, der vor zwei Jahren das lesenswerte Buch „Quo vadis Europa?“ publiziert und gesagt hat, dass Europa viel zu sehr mit sich selbst befasst sei, statt seine Befriedungs- und Prosperierungsaufgabe für die Welt wahrzunehmen. Das kann am ehesten ein Europa der Nationen, ein Europa der abgestimmten Geschwindigkeiten leisten, meine ich.

Es gibt Kritiker, die hier die Handschrift des Nationalismus sehen könnten.

Nein, hinter Nationalismen müssen wir gar nicht zurückfallen. Dennoch fehlt eine gemeinsame europäische Agenda, die auch nationale Interessen auf dem Spielfeld zulässt. Die europäische Ebene darf in keinem Fall hinter errungene Standards wie Gewaltenteilung und Republikprinzip zurückfallen, die ja in den Einzelstaaten Voraussetzung sind. Und wir dürfen uns nicht an den Grenzen Europas in die Geiselhaft von Demokraturen begeben, um die Grenzen zu sichern.

Was heißt Demokratur?

Eine Mischung aus Demokratie und Diktatur. Das ist jedenfalls ein ganz großes Problem, dass wir aus der eigenen Unsicherheit heraus von nicht-europäischen Politik- und Regierungsstilen überrollt werden. Man sieht in der gegenwärtigen Krise Europas, dass die Überdehnung des bürokratischen Einheitswillens zu einer Unwilligkeit, einem Missvergnüngen beim Bürger geführt hat. Dabei dürfen wir dennoch durchaus beeindruckt sein von den Visionen der Europäer der ersten Stunde, die noch miterlebt haben, wie der Kontinent in Rauch und Asche zweier Weltkriege aufging. Vielleicht war es Papst Johannes Paul II., der diese Vision zuletzt am stärksten weitergeführt hat. Heute brauchen wir für Europa neue Narrative und Visionen, die in die Zukunft weisen. Die junge Generation ist mehr oder minder dem Selbstverständnis nach europäisch – doch so selbstverständlich ist das gar nicht.

Sie sprechen den Brexit an und die wachsenden Erfolge national gesinnter Parteien?

Richtig. Wir müssen uns fragen, wie soll denn diese Welt und wie soll Europa 2030, 2040 aussehen. Und da müssen wir dann auch vorausschauend fragen: Was passiert, wenn wir dieses Europa mit einem überwölbenden Euro, der das Ganze letztlich nicht tragen kann, und mit einer Überbürokratie so weiter treiben? Ich halte es für wahrscheinlich, dass wir einen europäischen Bürgerkrieg bekommen und uns einen Scherbenhaufen bereiten. Wenn wir aber nuanciert vorgehen, also die unterschiedlichen Geschwindigkeiten der Mitgliedsstaaten berücksichtigen, dann können wir die Einheitsidee wahren, aber zugleich den Unterschieden Rechnung tragen. Europa ist ein Ordnungsgedanke und eigentlich auch eine ethische Kraft, sogar viel stärker als eine Sache der Bürokratie. Man sollte aufhören, den Zweifel am Euro mit einer antieuropäischen Haltung gleichzusetzen. Europa ist ein riesiges Friedensprojekt, und es ist viel zu wertvoll, um es einfach preiszugeben.

Was meinen Sie mit Bürgerkrieg? Ein Krieg zwischen Frankreich und Deutschland wäre doch gar nicht mehr denkbar, oder?

In der Tat, das ist glücklicherweise weit weg. Bürgerkrieg meint eine innerstaatliche Problematik. Allerdings sehe ich schon, dass sich alte Ressentiments unter einer vordergründigen Patina sehr schnell wieder reaktivieren lassen. Polen, aber auch Griechenland zeigen eine starke Abwehrhaltung gegen Deutschland. Man erkennt hier die Wachheit des kulturellen Gedächtnisses. Auch die Brexit-Debatte offenbart wieder alte Mechanismen.

Auch die Migrationsfrage wird sehr unterschiedlich bewertet.

Richtig. Dabei sind die innereuropäischen Fronten, die Gefährdungen durchaus verwandt. Man geht unterschiedlich mit ihnen um. Zuwanderung ist in Ost- und Mitteleuropa einerseits und in den doch sehr saturierten Staaten der Mitte ein unterschiedliches Problem. Dennoch gibt es Parallelen und je mehr die proeuropäischen Bindekräfte nachlassen umso mehr kommen auch alte nationalstaatliche Ressentiments wieder hoch. Das will natürlich niemand, und es mag jetzt vielleicht als eine Position wie die der Kassandra von Troja erscheinen, aber wir müssen die Gefährdungen auch zu Ende denken, um gegensteuern zu können.

Brauchen wir dafür vielleicht auch einen neuen Typus Politiker?

Ich lehre unter anderem seit Jahren an der Hochschule für Politik in München, die viele Anwärter für politische Ämter hervorbringt. Ich sehe schon, dass viele das primäre Interesse verfolgen, wie man mit Meinung und mit Medien umgeht, aber nur sehr wenige eine eigene Zielsetzung haben. Die Parteien sind verwechselbar geworden und die Karriere des Politikers steht im Vordergrund. Plakativ gesagt: Viele Politiker leben von der Politik statt für sie zu leben. Die Antike unterscheidet zwischen Politik und Kratik. Der Kratiker ist bloß auf den eigenen Machterhalt fixiert, der Politiker hat die Polis, also das Gemeinwesen im Blick. Was wir in dieser umtriebigen Zeit brauchen, sind Menschen, die davon getrieben werden, die sich frei äußern können, auch gegenüber der eigenen Partei.

Ist die junge Generation denn zu behütet aufgewachsen?

Man wünscht keiner Generation schlechte Zeiten, aber vielleicht kriegen wir schlechte Zeiten. Meine Generation war eine Brückengeneration, die vielleicht zu wenig das nicht Selbstverständliche von Frieden, Freiheit und von Privilegien weitergegeben hat. Ich glaube aber auch, dass unser Bildungssystem und seine Institutionen in keinem guten Zustand sind.

Inwiefern?

Die Universitäten haben sich durch die Bolognareform vermeintlich universalisiert, sind vermeintlich konkurrenzfähig geworden. Tatsächlich hat man immer kleinere Studiengänge und Profilierungen geschaffen, das übergreifende Denken, das Transferdenken ist dabei aber immer weiter zurückgedrängt worden. Auch in Schulen wird Bildung als Aufstiegsfaktor behandelt, die Leistung und die Bringschuld sind da nur noch nachrangig berücksichtigt. Es geht also mehr um Verpackung als um Substanz. Da müssen wir wieder massiv umdenken, wenn wir mehr Persönlichkeiten mit Kante und Gewicht gewinnen wollen, die auch für das ihre einstehen. In der Schweiz nennt man es mit Wilhelm-Tell-Pathos für etwas hinstehen. Das Bild ist nicht ganz falsch. Denn es ist wichtig, wenn die Pfeile der Kritiker kommen, dass ich weiß, wofür ich stehe. Sowohl positiv als auch negativ. Das setzt auch eine gewisse Widerstandskraft voraus, von den Psychologen Resilienz genannt.

Das klingt alles so, als würden unsere Schüler zum Abitur hingetragen.

Naja, … ich bin da mit dem ehemaligen Kulturstaatsminister Nida-Rümelin einer Meinung – es muss auch nicht jeder das Abitur machen. Und es muss auch nicht jeder Akademiker werden, damit sein Leben gelingt. Wir haben in gewisser Hinsicht schon einen Bildungs- und Akademisierungswahn.

Die technologische Revolution der Digitalisierung verändert unser Leben – ob zum Guten, das ist die Frage. Kann uns die Philosophie hier mit dem Blick nach vorn eine Hilfestellung geben?

Ich schreibe gerade ein Buch über die digitale Revolution und was sie mit der Seele und mit dem politischen Verhalten des Menschen macht. Die Digitalisierung hat natürlich wunderbare Möglichkeiten gebracht, auf die ich auch nicht mehr verzichten möchte, etwa den Austausch mit Kollegen über Kontinente hinweg binnen weniger Minuten oder Sekunden, die Möglichkeit sich zu informieren. Große Bibliotheken werden durch ein paar Mausklicks ersetzt – das sind großartige Möglichkeiten, geradezu revolutionär, wenn man nur 30 Jahre zurückdenkt. Aber Medienkompetenz kann heute nicht primär bedeuten, mit Technik und Software umgehen zu können. Das können die digital natives, die mit der digitalen Welt Aufwachsenden, ohnehin besser als die Älteren. Es geht also um die Bewusstseinsbildung und die Urteilskraft, die entwickelt werden müssen.

Es geht also um Abstand und kritische Würdigung?

Ja, Distanz und Reflexion. So muss zwischen Information und Wissen deutlich unterschieden werden können. Wie kann ich also beurteilen, was eine digitale Information tatsächlich wert ist? Das selbstständige Denken, das Prüfen und vielleicht auch wieder der Gang in Bibliotheken müssen gelernt werden.

"Die Technologie schreitet schnell voran, aber die Fähigkeit zur Reflexion haben wir parallel nicht weiterentwickelt"

Hier sind wir bei der Aufklärung auf halbem Wege stehen geblieben. Wir haben eine Technologie, die rasend schnell voran schreitet, aber die Fähigkeit des Umgangs und der Reflexion, also die eigentlich menschlichen Fähigkeiten, haben wir parallel nicht weiterentwickelt. Die Fähigkeit, Daten zu interpretieren, und mit Interpretationen von Big Data selbst richtig umzugehen, ist leider viel zu wenig auf der bildungspolitischen Agenda. Das müsste in Konzepten zwischen Geistes- und Naturwissenschaften noch entwickelt werden. Man kann das Rad nicht zurückdrehen, es wäre jedenfalls keine intelligente Haltung, das zu tun. Aber man sollte versuchen, mit den Bewegungen dieses Rads mitzulaufen, sie zu begreifen und dabei immer auch die eigenen menschlichen Metapositionen einzuschalten, also einen laufenden Abgleich mit unseren ethischen Normen zu berücksichtigen. Das fehlt heute.

Die unstete Gegenwart hat mit Macron und Trump auch neue Regenten-Typen hochgespült.

Es kommt nicht von ungefähr, dass das Wahlverhalten immer irrationaler, unplanbarer wird. Deutschland lebt mit seiner politischen Stabilität zwar noch auf einer gewissen Insel der Seligen, aber viel stärker werden in unserem Umfeld solche Modelle wie Frankreich oder auch Russland kommen. Das Aufstreben eines Einzelnen, der eine Partei mit dem Ziel gründet, um als Einzelner sein Projekt durchzusetzen, der aber auch die Faszinationskraft entwickeln kann, um eine Wahl zu entscheiden. Es ist hochinteressant zu sehen, wie sich das in Frankreich realisiert, wo konservative wie sozialistische Kandidaten geradezu weggefegt worden sind. Max Weber würde sagen: Das Charisma zählt nur noch. Und so stellt sich die Frage: Was für ein Wahlvolk, was für Bürger haben wir, dass es einem zweifelhaften aber charismatischen Herrscher in die Hände fällt. Die klassischen alten Staats- und Legitimationstheorien beruhen auf einer etablierten politischen Kultur mit den Parteien, die an der Willensbildung mitwirken. Es ist aber nicht mehr selbstverständlich, dass das immer noch greift.

Ist das denn zwingend schlecht?

Wenn die Person auch eine Problemlösungskompetenz aufbringt, dann wäre das ein Paradigmenwechsel, mit dem wir gut leben könnten und müssten. Aber die Frage ist, ob es nicht etwa zu einem großen Erwachen kommt.

Der Paradigmenwechsel hat auch unsere Parteienlandschaft verändert.

Deutschland ist, was Wechselwählerschaft angeht, wesentlich stabiler. Dennoch hat sich eine AfD binnen weniger Jahre aus dem Off heraus etabliert und zu einer Kraft entwickelt, obwohl sie innerlich völlig unstrukturiert ist und unterschiedlichste Kräfte nur sehr, sehr oberflächlich zusammengeleimt enthält. Auch das ist ein Indiz für die Veränderungen und für den starken Rückgang der Volksparteien. Aber wir sind gebrannte Kinder durch die Weimarer Republik. Dennoch, wenn die Gefährdungslagen sich so weiter entwickeln, wird sich der Paradigmenwechsel mit einiger Verzögerung auch auf Deutschland durchschlagen.