Bürgergeld: Vorbereitungen laufen auf Hochtouren

Langzeitarbeitslose in den ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln ist schwierig, der Fachkräftemangel und neue gesetzliche Rahmenbedingungen könnten die Chancen 2023 verbessern.

Seit die damalige rot-grüne Bundesregierung 2005 die Sozial- und Arbeitslo- senhilfe zum Arbeitslosengeld II (ALG 2) zusammenlegte, was erhebliche Leistungseinschrän- kungen mit sich brachte, gleicht das deutsche Sozialrecht einer Dauerbaustelle. Die jüngste Reform geht jetzt abermals mit einer Umbenennung einher: Aus dem ALG 2 wird ab 1. Januar das neue Bürgergeld. Die SPD verkündet „die größte Sozialstaatsreform seit 20 Jahren“ und sieht „einen entscheidenden Perspektivwechsel“ eingeleitet. Andere sehen alten Wein durch neue Schläuche laufen, beklagen eine Mogelpackung.

Den Sozialbehörden im Heidekreis beschert das Bürgergeld kurz vor Jahresende erst einmal erhebliche Mehrarbeit. Das gilt für die Städte und Gemeinden, die Ansprüche aufgrund steigender Regelsätze und Freibeträge beim Bürger-, Sozial- und Wohngeld neu berechnen müssen, aber auch für das vom Landkreis in Eigenregie betriebene Jobcenter in Bad Fallingbostel. Dieses ist vor allem mit der Arbeitsvermittlung bertraut. In diesem Bereich fällt unter anderem der Vermittlungsvorrang weg, der bislang im zweiten Sozialgesetzbuch verankert ist und besagt: „Vorrangig sollen Maßnahmen eingesetzt werden, die die unmittelbare Aufnahme einer Erwerbstätigkeit ermöglichen.“

In der Praxis führt das bislang vor allem bei Geringqualifizierten häufig zur Vermittlung in schlecht bezahlte und befristete Jobs, die keinen nachhaltigen Weg aus der sozialen Bedürftigkeit weisen. Künftig soll der Fokus stärker auf Weiterbildung liegen. Der Fachkräftemangel scheint dafür einen guten Nährboden zu liefern. Viele Branchen suchen händeringend qualifiziertes Personal, auch im Heidekreis.

Vermittlungsaufwand steigt

Beim kommunalen Jobcenter bereite man sich auf dauerhafte Mehrarbeit vor, heißt es auf BZ-Anfrage. „Hierfür wurden zwei weitere Stellen für Integrationsfachkräfte geschaffen, die in den nächsten Monaten besetzt werden“, teilt die Kreisverwaltung mit. Der Aufwand bei der Arbeitsvermittlung sowie die Intensität der Beratung von Langzeitarbeitslosen würden als Folgen der Einführung des Bürgergeldes zunehmen.

Auf der ehrenamtlich betreuten Kreisebene des Sozialverbands Deutschland (SoVD) sei das Thema Bürgergeld noch nicht angekommen, sagt SoVD-Kreisvorsitzender Jürgen Hestermann. Weil um die Details des Bürgergeld-Gesetzes politisch hart gerungen wurde, zuletzt im Vermittlungsausschuss zwischen Landesregierungen mit CDU-Beteiligung und der Bundesregierung, konnte es erst auf dem letzten Drücker, am 25. November, in seiner endgültigen Form verabschiedet werden.

Das Bürgergeld ist noch gar nicht in Kraft, da wird es bereits stark und kontrovers diskutiert. Eine Online-Petition mit mehr als 62 000 Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern fordert „Echtes Bürgergeld statt Bürger-Hartz“. Es könnte also sein, dass das von der SPD herbeigesehnte „Überwinden von Hartz 4“ sprachlich nicht wirklich gelingt. Linke Aktivisten sprechen genüsslich vom Bürger-Hartz, der CSU-Landesgruppenvorsitzende Alexander Dobrindt vom „Hartz-4-Update, das missverständlich als Bürgergeld bezeichnet wird“. Klar geht es in der politischen Debatte auch um die Deutungshoheit über einen Kampfbegriff.

Differenziert bewerten die Sozialverbände das neue Bürgergeld. Der SoVD auf Bundesebene kritisiert in einer Stellungnahme insbesondere die Streichung der „Vertrauenszeit“ aus der Gesetzesvorlage. Ursprünglich sollten Sanktionen gegen Arbeitssuchende in den ersten sechs Monaten des Bürgergeldbezugs ausgeschlossen sein, dieser Passus verschwand auf Druck der CDU ersatzlos aus der Gesetzesvorlage. „Wir haben beim SoVD ein anderes Menschenbild“, plädiert die neue SoVD-Vorstandsvorsitzende Michaela Engelmeier für Vertrauen statt Zwang. Dennoch bewertet sie das Bürgergeld insgesamt als spürbare Verbesserung.

Wesentliche Teile der Sozialreform treten erst zum 1. Juli in Kraft. Die ab diesem Zeitpunkt gesetzlich verankerte Stärkung der Vermittlungsarbeit in reguläre Beschäftigungsverhältnisse wird von den Sozialverbänden als richtiger Ansatz gutgeheißen, ebenso wie ein neues Stufenmodell bei den Sanktionen und natürlich die Anhebung der Regelsätze für Leistungsempfänger in der Grundsicherung. Der Monatssatz für Alleinstehende steigt um immerhin knapp 12 Prozent auf künftig 502 Euro. Das ist vor allem der hohen Inflation geschuldet, die arme Haushalte schwerer trifft als andere. Auch beim Wohngeld und in Bedarfsgemeinschaften erhöhen sich die Beträge.

Kreis der Berechtigten vergrößert sich

Die Anhebungen bei Regelsätzen und Freibeträgen vergrößern den Kreis der Leistungsberechtigten. Das betrifft sogenannte Aufstocker. Bürger mit wenig Geld, die bislang gleichwohl knapp oberhalb der Einkommensgrenzen für Hartz-Leistungen und Wohngeld lagen, könnten ab Januar erstmals Ansprüche haben. Für Betroffene ist wichtig, dass sie ihre Ansprüche aktiv geltend machen. Nur wer bis zum 31. Januar einen Antrag stellt, bekommt das Bürgergeld bei positiver Bescheidung rückwirkend ab Jahresanfang ausgezahlt.

Personelle Aufstockung um 50 Prozent

In den Kommunen spürt man bereits das Anschwellen der Antragsflut. Im Haushaltsentwurf 2023 von Schneverdingen sind zusätzliche Mittel für höhere Personalkosten im Wohngeldbereich vorgesehen, dort schlägt eine personelle Aufstockung um 50 Prozent zu Buche. Die Stadt geht aufgrund der geänderten Wohngeldberechnung davon aus, dass sich die Zahl der Berechtigten um das Zwei- bis Dreifache erhöht. Auch im Bereich der Sozialhilfe müsse mit Blick auf das Bürgergeld mehr Personal vorgehalten werden. Wohngeld wird bei der Berechnung des Bürgergelds angerechnet, bei Neuanträgen kann das durchaus kompliziert werden. Peter Plümer aus dem Fachbereich Bürgerdienste der Stadt Schneverdingen bleibt dennoch gelassen. „Wir wissen seit Monaten, was da auf uns zukommt, wir schaffen das.“