„Beim ersten mal geheult wie ein Schlosshund"

Nicola Hari-Farthmann begleitet Menschen durch Zeiten der Trauer.

Es ist ein tiefer Schmerz, eine der stärksten Empfindungen überhaupt: Trauer. Wie geht man mit ihr um? Wo gibt es Trost, wie sieht er aus? Richtige Worte und die passenden Gesten zu finden ist schwierig geworden in einer Welt, in der die Religion mit ihren diesbezüglichen festen Regeln und Ritualen an Bedeutung verloren hat. Nicola Hari-Farthmann (57) steht Trauernden im Heidekreis zur Seite, ehrenamtlich und beruflich. Im Interview erzählt sie von ihren Erfahrungen aus der Trauerarbeit und gibt Ratschläge zum Umgang mit einem Thema, das vielen unangenehm ist und dem doch niemand dauerhaft entkommt.

Sie arbeiten als Trauerrednerin und Bestatterin, leiten eine Trauergruppe und engagieren sich im Hospizverein. Für viele Menschen ist der Tod ein Thema, dem man sich ungern stellt. Wie ist Ihre Beziehung dazu, betrübt es sie nicht?
Nicola Hari-Farthmann: Nein. Ich wusste immer, dass ich einen sozialen Beruf ergreifen möchte. Nach dem Abitur habe ich eine Ausbildung zur Arzthelferin absolviert, danach war ich für ein Jahr als Au-pair im Ausland. Die Arbeit in einer Arztpraxis war aber nichts für mich, zu viele Pillen. Ich arbeitete dann vorübergehend in der Heilpraktiker-Praxis meines ersten Mannes mit und schließlich, nach einer Umschulung zur Buchhändlerin, fast 14 Jahre in der Stadtbücherei in Bad Fallingbostel. Das war eine wirklich schöne Zeit. Durch meinen zweiten Ex-Mann kam ich schließlich zum Bestattungswesen. Da stellte ich fest: Das ist genau das, was ich schon immer machen wollte. Ich war nur von selbst nie darauf gekommen.

Sie haben sich dann zur Bestatterin ausbilden lassen?
Ja, gemeinsam mit meinem Sohn. Das war wirklich toll. Am Anfang habe ich gar nicht so sehr an Tod und Trauer gedacht. Einfach nur an Menschen, die Trost benötigen. Als ich dann meine erste Verstorbene gesehen habe, so eine richtige kleine zarte Oma, die zuletzt in einem Seniorenheim lebte, musste ich aber heulen wie ein Schlosshund. Obwohl die Kräfte des Heims die im hohen Alter Verstorbene liebevoll hergerichtet hatten und es eigentlich kein tragischer Fall gewesen ist. Mir war einfach nicht bewusst, was der Anblick auslösen kann. Es war eben das erste Mal. So fing es an, und es ging gut weiter.

Der direkte Umgang mit Leichen und deren Zurechtmachung gehörte von dem Tag an zu ihrer Arbeit ...
... und das macht mir auch nichts aus. Als Arzthelferin habe ich ganz andere Dinge erlebt. Verwundete Kinder zum Beispiel, die starke Schmerzen haben. Das kann man gar nicht miteinander vergleichen. Verstorbene haben alles hinter sich, sie strahlen große Ruhe aus. Für sie ist alles gut.

Nicht so für diejenigen, die um die Toten trauern. Im Umgang mit ihnen sind viele Menschen unsicher. Wie ist das bei Ihnen nach so vielen Jahren Berufserfahrung? Weinen müssen Sie als professionelle Trauerbegleiterin wahrscheinlich nicht mehr ...
Oh doch! Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Es kommt immer auf die Geschichte an, die hinter einem Trauerfall steht. Es gibt die Fälle, in denen Hinterbliebene schon lange keine echte Beziehung mehr zu ihrem Verwandten gehabt haben. Vielleicht hat man sich zerstritten. Oft wissen die Hinterbliebenen gar nicht mehr so genau, warum der Kontakt eigentlich abgebrochen ist. Sie sind gesetzlich dazu verpflichtet, sich um die Bestattung zu kümmern, und erledigen das oft ziemlich emotionslos. Das finde ich ein bisschen traurig. Aber es ist nachvollziehbar, dass die Trauer in solchen Fällen nicht so groß ist. Wobei es vorkommt, dass der verpassten Gelegenheit nachgetrauert wird, Dinge aus der Welt zu schaffen und Zeit miteinander zu verbringen. Stark mitgelitten habe ich mit einer ganz lieben russlanddeutschen Familie, die ihre junge Tochter durch Krebs verloren hat. Die haben wirklich alles versucht, den Krebs zu besiegen. Es hat mein Herz sehr berührt, wie stark die Krankheit diese junge, wunderschöne und intelligente Frau verändert und zerstört hat. Der Krebs ist eine so furchtbare Krankheit. Anders gesagt: ein richtiges Arschloch.

Wie kann man Menschen, die so etwas miterleben, Trost spenden?
Wichtig ist, der Trauer Raum und Zeit zu geben. Zuhören und den Menschen reden lassen, wenn er das möchte und kann. Manche wissen nicht mehr, wo oben und unten ist und was sie überhaupt noch sagen sollen. In dieser Situation sollte unbedingt vermittelt werden, dass das Nichtreden auch absolut in Ordnung ist. Man kann sich dann fest für einen anderen Tag verabreden. Auch der Austausch in einer Gruppe kann unfassbar wichtig sein. Ich engagiere mich im Onkologischen Arbeitskreis von Dr. Sirus Adari in Walsrode und leite dort die Trauergruppe. Da erlebe ich, wie tröstlich es sein kann zu wissen, dass man nicht alleine ist, dass andere sich in ähnlichen Situationen befinden. Das Konzept offene Trauergruppe hat sich wirklich bewährt. Da kommen Menschen zusammen, die sich in unterschiedlichen Phasen der Trauer befinden. Bei dem einen liegt der Trauerfall oder die schlimme Diagnose vielleicht erst drei Wochen zurück. Eine andere hat diese Situation schon vor fünf Jahren durchlebt. Es macht einfach Mut zu hören, wie andere durch die Zeit gekommen sind und dass es weitergehen kann. Wobei sich Trauer nicht linear und individuell sehr unterschiedlich entwickelt. Manchmal fühlt man sich nach einer gewissen Zeit sicher und meint, alles gut verarbeitet zu haben. Und dann kommt es noch einmal zurück, mit so einer richtigen Kehrtwendung, auf die man überhaupt nicht vorbereitet ist. In der Gruppe kann man offen darüber sprechen. Alle haben Verständnis und können das wirklich nachempfinden. Das ist einfach fantastisch.

Im Umgang mit Trauer gibt es feste Traditionen. Die verlieren in einer diverser werdenden Gesellschaft aber an Verbindlichkeit. Wie wichtig sind heute noch kulturell eingeübte Rituale wie die klassische Beerdigung oder religiös begründeter Trost?
Es gibt beides, den traditionellen Umgang und neue Vorstellungen. Generell sind Traditionen in Städten aufgeweichter als im ländlichen Raum. Ich würde das gleichberechtigt nebeneinander stehen lassen. Eine klassische Beerdigung kann Halt geben. Mit ihr wird nach außen demonstriert, dass ein Todesfall eingetreten ist und man trauert. Es ist ermutigend, wenn Menschen zur Beerdigung kommen und damit zeigen, wie verbunden sie sich dem oder der Verstorbenen fühlen. Zur Tradition gehört auch die Trauerfarbe Schwarz. Aber das verändert sich. Schwarz ist ja immer die Abwesenheit von Farbe. Als mein Sohn von mir den Bestattungsbetrieb 2015 übernahm, haben wir uns entschieden, das anders zu denken. Wir nutzen bewusst weiße Fahrzeuge, in die Licht hineinfällt.

Weiß gilt ja in manchen Kulturkreisen seit jeher als Trauerfarbe.
Genau. Wobei es auch vorkommt, dass Leute das nicht so gut finden, wenn wir mit einem weißen Fahrzeug vorfahren, um einen Verstorbenen abzuholen. Uns ist die Helligkeit aber wichtig, um der Situation ein bisschen was von ihrer Schwere zu nehmen.

Ist der Totensonntag ein besonderer Tag für Sie?
Ich nehme ihn wahr, aber das ist wie mit anderen Feiertagen auch: Nur noch ein geringer Teil der Bevölkerung in Deutschland kennt deren wahre Bedeutung und nimmt Anteil daran. Wenn ich nur an den Reformationstag denke, den viele nur noch als Halloween wahrnehmen. Mit dem Totensonntag ist es ähnlich. Ich glaube schon, dass viele Ältere diesen Feiertag noch kennen. Für sie ist es oft noch ein Trost, am Totensonntag auf den Friedhof zu gehen und sich mit anderen auszutauschen. Wenn das Novemberwetter so trübe ist wie in diesen Tagen, kann es ja auch wirklich schön sein, in die Friedhofskapelle zu gehen und ein Licht anzuzünden. Aber die Jüngeren machen in der Regel einen großen Bogen um so etwas. In ihrem Leben ist das Thema Trauer nicht so zentral, sie haben weniger Umgang damit.

Wenn man den Umgang mit Trauernden nicht gewohnt ist, entsteht schnell eine gewisse Befangenheit. Soll man aktiv auf die Person zugehen? Man möchte nichts falsch machen, weder herzlos noch aufdringlich sein.
Es gibt kein allgemeingültiges Rezept dafür, wie man am besten auf Trauernde zugeht. Ich habe in meinen Trauergruppen immer wieder große Entrüstung darüber erlebt, dass sich Leute abwenden. Die müssen doch wissen, dass ich jetzt Trost, Gespräche und ein bisschen Fürsorge brauche, heißt es dann. Auf der anderen Seite gibt es Trauernde, die sich beschweren bedrängt zu werden, obwohl doch völlig klar sei, dass sie in ihrer Situation für sich sein möchten und ein bisschen Abstand benötigen. Man kann da eigentlich nur zart Angebote machen und schauen, wie darauf reagiert wird. Ein kleines Kärtchen zu schreiben kommt glaube ich immer gut an. Der Trauernde kann es einfach beiseite legen. Und irgendwann wieder hervorholen, um vom Angebot eines Kontakts doch noch Gebrauch zu machen. Direktes Zugehen auf die Person ist natürlich auch eine Möglichkeit. Einfach noch einmal Hilfe anbieten. Aber bloß nicht mit der Bemerkung, nun sei genug Zeit vergangen und es müsse langsam wieder zurück ins Leben gehen. Solche Sprüche sind das Schlimmste, wirklich der absolute Todesstoß.

Empfehlen Sie eher Lockerheit, um Trauernde auf andere Gedanken zu bringen, oder ernste Gespräche?
Ich glaube, man muss da einfach mit ganz viel Respekt und Sanftheit rangehen. Dinge kurz ausprobieren und ansprechen. Dann die Fühler ausstrecken und schauen, wie das angekommen ist. Was braucht der andere gerade jetzt? Wenn ich merke, dass das Gespräch von ihm in eine andere Richtung als von mir geplant gelenkt wird, würde ich da auch nicht mehr nachhaken. Im Moment ist es vielleicht zu viel. Trauernde erleben oft sehr viele nette Gesten. Manche halten es irgendwann nicht mehr gut aus, wenn schon wieder eine Nachbarin kommt, um ihr Beileid zu bekunden und einen in den Arm zu nehmen. Deswegen ziehen sich ganz viele Trauernde zurück und gehen zum Beispiel in einem anderen Ort oder gleich morgens um 8 Uhr einkaufen, nur um möglichst niemandem zu begegnen. Sie stellen die Klingel ab oder installieren eine Kamera an der Haustür. Es geht ihnen darum, selbst über Kontakte entscheiden zu können. Ich würde dazu raten, beim Rückzug eines trauernden Menschen nach einer gewissen Zeit vorsichtig den Kontakt zu suchen. Aber die Abstände ruhig zu vergrößern, wenn man merkt, dass man nicht richtig an die Person heran kommt. Es gibt ganz viele Trauernde, die auf gar keinen Fall vor anderen in Tränen ausbrechen möchten und die sich in dieser Lage einfach sehr hilflos fühlen. Vielleicht ist die Person, die den Kontakt sucht, einfach nicht diejenige, von der man jetzt in den Arm genommen werden möchte. Solche unmittelbar körperlichen Kontakte werden von vielen Menschen seit der Coronazeit ohnehin kritischer gesehen als es vorher der Fall gewesen ist.

Wie häufig erleben Sie es, dass Trauernde depressiv werden und nicht mehr ohne professionelle Hilfe aus ihrem Schmerz herausfinden?
Das kommt zum Glück nicht so häufig vor. Ich mache jetzt seit 20 Jahren Trauerarbeit und habe das, glaube ich, zweimal erlebt. Wobei es natürlich sein kann, dass gefährdete Personen erst gar nicht den Kontakt zur Gruppe suchen. In den Fällen, die ich erlebte, brachen neben der eigentlichen Trauer weitere Themen auf. Das ging in Richtung unverarbeiteter Traumata. Da stoßen wir an Grenzen. Diese Verantwortung kann ich nicht übernehmen, denn ich bin keine Therapeutin. Das wäre einfach zu viel für die Gruppe.

Gibt es eine Faustregel, wie lange eine Trauerphase dauert und ab wann es problematisch wird?
Nein, meiner Meinung nach nicht. Man kann sich das wie eine Wunde vorstellen. Je nachdem wie stark die Bindung an den Verstorbenen gewesen ist, hinterlässt der Verlust eine Schürfwunde oder ein riesengroßes Loch. Die Schürfwunde schmerzt weniger als das Riesenloch. Ganz verheilen tun beide nicht. Man kann zwischendurch mal ein Pflaster draufkleben oder einen Verbandswechsel vornehmen, dann fällt es nicht mehr so auf. Aber es ist trotzdem noch da. Am Ende geht es darum, damit umzugehen und wieder zu spüren, dass das Leben auch schöne Seiten hat. Deswegen liegt der Fokus in den Gruppen auch stark darauf, Verständnis zu haben und gleichzeitig zu vermitteln, dass es immer noch tolle Sachen zu erleben gibt. Zu zeigen, dass der Tod des Partners nicht bedeutet, dass man nur noch ein halber Mensch ist. Man war ja vor der Beziehung auch schon da, als ganzer Mensch mit eigenen Wünschen und Vorstellungen vom Leben. Das trägt man in sich, und daran sollte man sich wieder erinnern und es hervorholen. Du bist jemand, auch wenn du jetzt alleine bist. Mit der Trauergruppe vom Onkologischen Arbeitskreis waren wir gerade erst beim Italiener gewesen, haben einfach mal gemeinsam etwas Leckeres gegessen, ein bisschen Wein getrunken im Kerzenschein. Es ist wichtig zu spüren, dass es dieses normale Leben immer noch gibt, diese guten Momente, in denen alle wissen, worauf es ankommt.