„Es wurde alles gemacht, was er nicht wollte“

Die meisten Menschen äußern in Umfragen, dass sie zu Hause sterben möchten, aber mehr als die Hälfte aller Tode in Deutschland ereignen sich in Krankenhäusern. Dort bis zum Schluss selbstbestimmt zu bleiben, ist nicht immer leicht.

Bis zum letzten Atemzug ein selbstbestimmtes Leben zu führen, wünschen sich die meisten Menschen. Doch am Lebensende ist der freie Wille oft getrübt, sind die eigenen Ausdrucks- und Handlungsfähigkeiten eingeschränkt. Und dann?

Experten raten schon lange zur Vorsorge durch Verfügungen und Vollmachten. Verfasst im Zustand geistiger Wachheit, sollen sie den freien Willen quasi konservieren. Im Ernstfall, wenn die betroffene Person sich nicht mehr selbst äußern kann, weist der dokumentierte Wille den Weg und entlastet dadurch auch Partner und Angehörige, die nicht in die belastende Situation geraten, selbst zum Beispiel entscheiden zu müssen, ob lebensverlängernde Maßnahmen aufrecht erhalten werden sollen oder nicht. Eine Patientenverfügung schafft Klarheit und Rechtssicherheit in einer emotionalen Ausnahmesituation. So die Theorie.

Die Praxis sieht oft anders aus. Das musste auch Patricia Kolesov-Santorino erfahren, als ein von ihr seit acht Jahren ehrenamtlich gepflegter Bekannter Mitte April in das Heidekreis-Klinikum (HKK) Walsrode eingeliefert wurde. Zunächst nicht in die Intensivstation. Dennoch übergab Kolesov-Santorino der Klinik bereits am nächsten Tag die Patientenverfügung des 79-Jährigen. Damit im Falle einer Komplikation nichts getan wird, was der Patient nicht möchte. „Das habe ich ihm versprochen“, sagt die Betreuerin. Im aussichtslosen Ernstfall wollte der alte Mann, dass man ihn in Ruhe sterben lässt. Das sei ihm wichtig gewesen.

„Warum benutzt man diese Menschen als Gelddruckmaschinen?“

Der Ernstfall trat nach 14 Tagen tatsächlich ein. Der Patient wurde auf die Intensivstation verlegt. Noch auf dem Weg dorthin habe sein Herz versagt, berichtet Kolesov-Santorino. Der Senior wurde noch auf dem Flur reanimiert, anschließend intubiert und künstlich beatmet. Schon diese Sofortmaßnahmen bewertet seine Betreuerin als Verstoß gegen die Patientenverfügung. Dass in einem Notfall unter Zeitdruck erst einmal Rettungsmaßnahmen eingeleitet werden, könne sie indes noch nachvollziehen. Was sie empört ist das, was in den folgenden rund sechs Tagen geschah. „Es wurde alles gemacht, was er nicht wollte“, sagt die Soltauerin fassungslos und äußert den Verdacht, dass dabei auch finanzielle Motive eine Rolle spielten. „Warum benutzt man diese Menschen als Gelddruckmaschinen?“

Das Klinikum weist die Kritik mit Blick auf die Rechtslage zurück. Diese sei komplizierter, als viele glauben, erklärt Heike Kretschmann, Fachfrau für das Thema Patientenverfügungen im SoVD-Beratungszentrum in Hannover, im Gespräch mit der Böhme-Zeitung.

Für den Fall eines „aller Wahrscheinlichkeit nach unabwendbaren Sterbeprozesses“, im „Endstadium einer unheilbaren, tödlich verlaufenden Krankheit“ und auch beim als Folge einer Schädigung des Gehirns voraussichtlich unwiderbringlichen Erlöschen der Fähigkeit, „Entscheidungen zu treffe nund mit anderen Menschen in Kontakt zu treten“, verzichtete er auf lebensverlängernde Medikamente und Behandlungen. Dies steht, neben weiteren Ausführungen, in der Patientenverfügung des 79-Jährigen. Sie liegt der Böhme-Zeitung vor und wirkt recht eindeutig. Der Text wird von der Niedersächsischen Ärztekammer als Muster angeboten. Ihr Schützling habe das Dokument gemeinsam mit dem Sozialdienst des Hamburger Unfallkrankenhauses Boberg ausgefüllt, berichtet seine Betreuerin.

170 Stunden an Schläuchen

Der Patient wurde nach der ersten Reanimation im HKK gleichwohl für eine Woche ins künstliche Koma versetzt und geriet in eine Lage, die er bei verständiger Würdigung seines niedergelegten Willens für sich wohl abgelehnt hätte. „Ich verstehe einfach nicht, warum man jemanden 170 Stunden entgegen seinem Willen behandelt, bevor man ihn sterben lässt“, sagt Kolesov-Santorino. „Jeden Tag habe ich in der Klinik nachgefragt: Was macht ihr da?“ Die Antworten seien immer unterschiedlich ausgefallen, „jeder hat was anderes gesagt“.

Eingestellt worden seien die lebensverlängernden Maßnahmen erst, nachdem die Hausärztin des Patienten, eine ausgebildete Palliativmedizinerin, in der Klinik angerufen habe. In der darauffolgenden Nacht um 2.47 Uhr starb der Patient.

Sollte er tatsächlich entgegen den rechtmäßigen Festlegungen der Patientenverfügung weiterbehandelt worden sein, hätte das eine strafrechtliche Relevanz – es stünde der Vorwurf einer Körperverletzung im Raum. Aber auch ein vorzeitiger Behandlungsabbruch kann strafbar sein. „Es heißt nicht umsonst, dass Ärzte immer mit einem Bein im Gefängnis stehen“, sagt SoVD-Beraterin Kretschmann. Sie referiert oft über Patientenverfügungen, in der Vergangenheit auch im Heidekreis. Die Nachfrage sei groß. „Grundsätzlich ist jede Patientenverfügung besser als keine Patientenverfügung“, erklärt die Fachfrau. Sie kennt die Vorlage der Ärztekammer. Die sei qualitativ gut, jedoch „anders als man denken könnte nicht perfekt". Patientenverfügungen sollten grundsätzlich so konkret und individuell wie möglich verfasst werden, rät Kretschmann. Die Auslegung von Patientenverfügungen sei nämlich oft schwieriger als es auf den ersten Blick scheine. „Es geht nicht um irgendwelche Vertragsmodalitäten. Es geht um Menschen, um Leben und Tod.“ Im Zweifel müsse das Betreuungsgericht angerufen werden und eine Entscheidung treffen.

Justizministerium bietet Orientierung

Eine gute Orientierung für umfassende Patientenverfügungen lieferten die Empfehlungen des Bundesjustizministeriums, so Kretschmann. Die Verbraucherzentralen böten auf diesen Empfehlungen basierende Verfügungstexte an. Auch das HKK verweist auf diesen Weg.

Bezüglich des konkreten Falles teilt HKK-Sprecherin Nina Bernard mit, es habe keine Behandlungsfehler gegeben. Aus der Patientenverfügung ergebe sich, dass lebensverlängernde Maßnahmen erst einzustellen seien, wenn keine Hoffnung auf Besserung mehr bestehe. „Das akute Krankheitsbild, mit dem der Patient auf die Intensivstation verlegt wurde (Anatmen von saurem Mageninhalt in die Lunge) hatte eine Chance auf Heilung“, so Bernard. „Als es keine Chance auf Heilung mehr gab, wurde die palliative Behandlung gestartet.“ Alles im Einvernehmen mit Kolesov-Santorino. „Das widerspricht dem, was man uns in der Klinik gesagt hat“, erwidert diese. „Schon am zweiten Tag auf der Intensivstation war von Nieren- und Leberversagen die Rede.“ Auf einen Rechtsstreit wolle sie es indes nicht ankommen lassen.