Ein ganzer Landkreis ohne queerfeindliche Übergriffe

Trügt das fröhliche Bild? Mehr als 200 000 Menschen zogen am Sonnabend beim Christopher-Street-Day (CSD) unter dem Motto „Selbstbestimmung jetzt! Verbündet gegen Trans*feindlichkeit“ durch die Hamburger Innenstadt. Wenige Tage zuvor vermeldete das Land Niedersachsen eine starke prozentuale Zunahme registrierter queerfeindlicher Straftaten in den vergangenen drei Jahren. Foto: ari

Bei der größten CSD-Parade Norddeutschlands demonstrierten und feierten am Wochenende in Hamburg mehr als 200 000 Menschen unterschiedlicher sexueller Identitäten unter dem vom Veranstalter ausgerufenen Motto „Verbündet gegen Transfeindlichkeit. Die fröhlich-bunten Bilder vom Straßenumzug durch das Stadtzentrum täuschen leicht darüber hinweg, dass die Akzeptanz gegenüber sexuellen Minderheiten gerade eher ab- als zunimmt. Das legen zumindest offizielle Zahlen aus der Polizeistatistik nahe.

Demnach hat sich die Zahl der registrierten queerfeindlichen Straftaten in den vergangenen drei Jahren in Niedersachsen mehr als verdreifacht, von 29 im Vor-Pandemiejahr 2019 auf 94 im vergangenen Jahr. Dies ist das polizeilich erfasste Hellfeld. Die Steigerung kann eingeschränkt als Indikator auch für die Entwicklung des Dunkelfelds herangezogen werden. Zu berücksichtigen sei dabei, dass sich das Anzeigeverhalten der Opfer verändert habe. Einschlägige Taten würden häufiger bekannt als früher, so die Einschätzung von Ermittlern.

Polizei zeigt Präsenz beim Christopher-Street-Day

In der Polizeidirektion Lüneburg, zu deren Zuständigkeitsbereich die Polizeiinspektion Heidekreis gehört, gibt es bereits seit 2007 geschulte Ansprechpersonen für die queere Community. Aktuell sind es die Beamten Stephanie Scholl und Jan Blech. Zudem gebe es in den Polizeiinspektionen, auch im Heidekreis, weitere Multiplikatoren – „das ist innerhalb der Polizei Niedersachsen derzeit einmalig“, heben die Lüneburger gegenüber der Böhme-Zeitung hervor. Das Verhältnis zwischen Polizei und LGBTQI-Szene ist historisch belastet, die Tradition der CSD-Paraden hat ihren Ursprung im Protest gegen willkürliche Polizeigewalt. Den Ansprechpersonen der Polizeidirektion Lüneburg sei es jedoch inzwischen gelungen, ein Vertrauensverhältnis in die Szene hinein aufzubauen. Man bemühe sich „beispielsweise bei Veranstaltungen zum Christopher Street Day präsent zu sein. Das ist auch von vielen CSD-Veranstaltenden gewünscht.“

Eine Zunahme queerfeindlicher Übergriffe sei für den Zuständigkeitsbereich der Polizeidirektion Lüneburg nicht feststellbar. Die Zahl der jährlich erfassten Delikte mit entsprechendem Hintergrund, tatbestandlich überwiegend Beleidigungen und Sachbeschädigungen, bewege sich konstant im einstelligen Bereich. Für den Heidekreis sei in den Jahren 2021 und 2022 keine einzige derartige Straftat registriert worden. Das überrascht dann doch. „Geh sterben Transe“ an die Kellertür geschmiert So berichtete die Böhme-Zeitung im vergangenen Jahr über wiederholte, offensichtlich transfeindlich motivierte Straftaten gegen einen jungen trans Mann und seine Familie in Neuenkirchen. Unter anderem wurden Hass-Botschaften wie „Geh sterben Transe“ an eine Kellertür geschmiert. Die Polizei war eingeschaltet, ermittelt wurde wegen Nötigung, Bedrohung, Sachbeschädigung und Hausfriedensbruch (BZ vom 3. Februar 2022: „Wenn der Hass sich Bahn bricht“). Eingang in die Polizeistatistik zur Erfassung von Straftaten mit LGBTQI-Bezug fand das Ermittlungsverfahren offenbar nicht.

Auch Thorsten Lampe zeigt sich von der Polizeistatistik überrascht. „Es gibt schon einige Übergriffe im Heidekreis“, sagt der aus Walsrode stammende Queeraktivist und Travestiekünstler (Miss Ginger). „Die werden wohl nicht angezeigt“, mutmaßt er. Opfer würden es auf sich beruhen lassen. „Das ist schade. So etwas muss viel häufiger gemeldet werden“, findet Lampe. „Aktuelle Umfragen deuten darauf hin, dass landesweit von einer hohen Dunkelziffer der LGBTQI-feindlichen Straftaten ausgegangen werden kann“, sagt Tarek Gibbah, Sprecher der Polizeidirektion Lüneburg. „Die Gründe für eine Nichtanzeige von Straftaten könnten oftmals in falscher Scham, Angstgefühlen oder schlichtweg Misstrauen liegen.“