„Schnellabschussregelungen sind eher zum Heulen als zum Lachen“

Quo vadis, canis lupus? Seit seiner Rückkehr um die Jahrtausendwende breitet sich der Wolf stetig aus: Über 50 Rudel der 184 deutschen Rudel streifen derzeit durch Niedersachsen.

Dr. Antje Oldenburg ist Wolfsexpertin und Pressesprecherin des Naturschutzbundes Deutschland (Nabu) im Heidekreis. Die BZ-Redaktion hat sie mit den Kerninhalten der Behringer Veranstaltung konfrontiert. Im Interview stellt die Naturschützerin aus Ahlden ihre Sicht der Dinge dar.

Kann der „Traum von einer sich der Natur überlassenen Tier- und Pflanzenwelt“ in unserer Kulturlandschaft nur ein Traum bleiben, in dem der Wolf keinen Platz hat?

Dr. Antje Oldenburg: Zuerst muss man sagen, dass das ungebremste Bevölkerungswachstum, die Zerstörung von Lebensräumen, die Ausbeutung und Verschmutzung der Natur sowie die Bejagung von Wildtieren zu einem Massensterben der Arten geführt haben, das in der Erdgeschichte hinsichtlich seines Umfangs und seiner Geschwindigkeit seinesgleichen sucht. Konflikte zwischen Menschen und Wildtieren gibt es überall auf der Welt, nicht nur in dicht besiedelten Landschaften. Ob es gelingt, sie zu lösen und für eine möglichst reibungslose Koexistenz zu sorgen, ist eine Wissens- und Willensfrage. Leider hat es in den vergangenen Jahren eine kleine Gruppe einflussreicher und lautstarker Akteure aus Eigeninteresse verstanden, sämtliche Lösungsansätze für unbrauchbar oder unbezahlbar zu erklären. Dazu werden diffuse Ängste in der Bevölkerung geschürt und Desinformation verbreitet. Stimmen aus dem Kreis der Wissenschaft – sowie derer außerhalb des Mainstreams von Nutztierhaltung oder Jagd – sind weitgehend verstummt. Sie werden von den Entscheidungsträgern schlicht nicht mehr zur Kenntnis genommen. Die Folge ist eine desaströse Wolfspolitik jenseits von Recht, Wissenschaft und Vernunft.

DJV-Präsident Helmut Dammann-Tamke spricht von einem „guten Erhaltungszustand“ des Wolfes in Niedersachsen und prognostiziert 2035 das Erreichen der Kapazitätsgrenze auf hiesigen Flächen, sofern man dem nicht entgegenwirkt...

Ob und wann die ermittelten Wolfsterritorien tatsächlich besetzt werden, hängt von einer Vielzahl an Faktoren wie der Reproduktions- und Mortalitätsrate, der Zuwanderung aus Nachbarländern oder der Veränderung von Lebensräumen ab. Die Annahme, die Kapazitätsgrenze würde in Niedersachsen spätestens 2035 ausgelastet sein, ist daher reine Spekulation. Das Wolfsmonitoring der niedersächsischen Landesjägerschaft weist derzeit 58 Wolfsterritorien aus, die von 52 Rudeln, vier Paaren und zwei Einzelwölfen besetzt sind. Im Jahr 2022/23 wurde die gleiche Anzahl an Territorien gemeldet, in denen 39 Rudel, 17 Paare und zwei Einzelwölfe lebten. Die Existenz von drei dieser Rudel konnten bislang nicht bestätigt werden. Außerdem fehlt in sechs Rudeln der Nachweis von Welpen. Selbst wenn sich bis zum Ende des Monitoringjahres noch leichte Verschiebungen ergeben, liegt es auf der Hand, dass sich der Zuwachs extrem verlangsamt hat. Letztlich ist dies ohnehin unerheblich, denn eines ist klar: Nähert sich eine Population der natürlichen Kapazitätsgrenze, treten Regulationsmechanismen in Kraft, die bei an der Spitze der Nahrungskette stehenden Tierarten aus einer verminderten Geburtenrate und erhöhten Sterberate durch Krankheiten und territoriale Auseinandersetzungen bestehen. Behauptungen, die Wolfspopulation sei zu hoch, sind völlig aus der Luft gegriffen und dienen lediglich der Legitimierung der Jagd.

Wie steht es um die regionale Flora und Fauna? Führt ein unreguliertes Wolfswachstum nicht zum Verlust der Weide- und Schafwirtschaft, wenn Wildbestände dezimiert sind?

Als Spitzenprädatoren spielen Wölfe eine wichtige Rolle in Ökosystemen. Sie reduzieren das Schalenwild auf ein „waldverträglicheres“ Niveau. Dazu sorgen sie durch das Reißen geschwächter Beutetiere für gesunde Wildbestände und dämmen die Ausbreitung von Seuchen ein. Sieht man einmal davon ab, dass nur effektive Herdenschutzmaßnahmen Nutztiere vor Prädatoren schützen können, so erweist sich diese Befürchtung bei einem Blick in Länder mit durchgängiger Wolfspräsenz als unhaltbar: Nirgendwo sind Schalenwildbestände zusammengebrochen, musste die Weidetierhaltung aufgegeben werden. Ohnehin liegt dieser Annahme eine simplifizierende Vorstellung von Jäger-Beute-Beziehungen zugrunde. Raub- und Beutetiere bilden in ihrem gemeinsamen Lebensraum ein kompliziertes Gefüge, das sich wechselseitig beeinflusst und reguliert.

Wie wirkt sich die Rückkehr der Wölfe auf das Beutetier-Verhalten aus? Das Wild soll zunehmend von Waldgebieten auf Ackerland ausweichen, was in Agrarschäden resultiere.

Diese Frage wird vonseiten der Jägerschaft erstaunlicherweise unterschiedlich beantwortet: Mal wird verkündet, das Wild wäre nervöser, würde sich im Dickicht verstecken und sei daher schwerer zu schießen. Dann wird behauptet, es würde sein Heil in Feld und Flur suchen und sich in landwirtschaftlichen Kulturen zu „Angstrudeln“ zusammenrotten. Entscheidend für die Rudelgröße von Pflanzenfressern wie Rothirschen ist indes die Verfügbarkeit von Nahrung. Daher bilden sie in offenen Habitaten mit guter Sicht und viel Nahrung große Rudel, während sich Tiere im Wald auf größerer Fläche verteilen, um satt zu werden. Rehe hingegen bevorzugen Waldrandzonen. Erst im Herbst schließen sie sich zu kleinen Rudeln zusammen. Auch dieses Verhalten hat nichts mit der Anwesenheit von Wölfen zu tun. Es ist eine energiesparende Anpassung an das geringe, eiweißarme Nahrungsangebot im Winter. Wenn man bedenkt, dass Wölfe und Schalenwild eine komplexe Lebensgemeinschaft bilden, die sich im Laufe einer Jahrtausende währenden Koevolution herausgebildet hat, ist es fraglich, ob die Rückkehr der Wölfe nach 150 Jahren zu tiefgreifenden Verhaltensänderungen der Beutetiere führt. Bislang wurden in Studien keine wesentlichen Änderungen im räumlichen Verhalten festgestellt. Dennoch hält sich der Mythos von Angstrudeln ebenso beharrlich wie die Behauptung, Wölfe würden die Wälder „leerfressen“ und anschließend auf Nutztiere „umschwenken“.

Sie haben den Herdenschutz bereits angesprochen. Dammann-Tamke nennt eine kaum aufzubringende Summe von 1,2 Milliarden Euro, die alleine für den Rinder-Schutz aufgebracht werden müsste. Diesbezüglich fordert er Konstruktives vom Nabu...

Seit Monaten geistern astronomische Summen durch die Medien, die angeblich für flächendeckende Herdenschutzmaßnahmen in Niedersachsen benötigt würden. Da die Berechnungsgrundlagen nicht offen gelegt werden, sind sie weder nachvollziehbar noch überprüfbar. Zweifellos sind dafür hohe Summen erforderlich, die allerdings nicht allein vom Land getragen, sondern zum Großteil von der EU bereitgestellt werden. Warum diese Mittel nicht abgerufen werden, bleibt ein Geheimnis der Politik. Letztlich ist die Entscheidung, wofür wie viel Geld ausgegeben wird, eine politische Entscheidung. Die moralische und gesetzliche Verpflichtung für das Wohl und die Sicherheit von Nutztieren liegt grundsätzlich bei den Haltern. Um ihr in angemessenem Umfang nachzukommen, bedarf es jedoch finanzieller Unterstützung der öffentlichen Hand. Auch hier gilt: Nichts ist politischer als die Natur. Das NABU-Projekt „Herdenschutz Niedersachsen“ leistet seit 2017 Beratung, Wissenstransfer und Unterstützung für die Umsetzung wirkungsvoller Maßnahmen zum Schutz von Weidetieren vor Wolfsübergriffen. Versäumnisse im Herdenschutz den „Wolfsfreunden“ anlasten zu wollen, ist schlicht lächerlich und leicht durchschaubar wie der Versuch, Wölfe für das Anfang der 70er-Jahre einsetzende Höfesterben oder für Fraßschäden in land- und forstwirtschaftlichen Kulturen verantwortlich zu machen.

Pläne der Politik, Schnellschüssen unter bestimmten Voraussetzungen grünes Licht geben zu wollen, bezeichnet Dammann-Tamke als „Lachnummer“. Aus konträrer Sicht dürfte auch der Nabu nicht einverstanden sein, oder?

Die beim Dialogforum „Weidetierhaltung und Wolf“ vorgestellten Details zur „Schnellabschussregelung“ sind eher zum Heulen als zum Lachen. Sie verstoßen, wie die letzten Urteile zu artenschutzrechtlichen Ausnahmegenehmigungen zeigen, gleich in mehrfacher Hinsicht gegen geltendes Recht. Besonders gravierend ist der Verzicht auf die nach EU-Recht zwingend erforderliche Feststellung des Schadensverursachers und die Herabsetzung anerkannter Herdenschutzstandards bei der Festlegung der Gebiete mit erhöhtem Rissaufkommen. Übrigens kann ich Herrn Dammann-Tamke beruhigen: Da der zum Schnellabschuss führende Riss, wie auf dem Dialogforum zu hören war, erst nach Ablauf der dreiwöchigen Frist bekannt gegeben werden soll, brauchen sich die Jäger nicht vor lärmenden Tierschützern sowie anderen Phantomgestalten oder Gespenstern zu fürchten. Allerdings dürfte sich die Geheimhaltung als rechtswidrig erweisen. Sie entzieht den klageberechtigten Verbänden die im Grundgesetz verankerte Rechtsweggarantie. Summa summarum halten wir die geplante Verordnung für grob rechtswidrig. Sie wird nicht den gewünschten Effekt haben, sondern mehr Probleme schaffen als lösen. Unweigerlich wird sie zu immer abstruseren Abschussforderungen führen, obwohl längst mehrfach wissenschaftlich belegt wurde, dass die Jagd kein probates Mittel ist, um Nutztierrisse langfristig zu minimie­ren. Das tun nur flächendeckende Herdenschutzmaß­nahmen.

Wie stehen Sie zu Dammann-Tamkes Schlussfolgerung, ein regional differenziertes Bestandsmanagement schaffe Akzeptanz für den Wolf und schütze ihn vor illegalen Tötungen?

Wie Studien aus den USA, Mexiko und Schweden zeigen, führt eine Legalisierung der Wolfsjagd weder zu einer besseren Akzeptanz von Wölfen in der Bevölkerung noch zu einer Reduktion illegaler Wolfstötungen. Im Gegenteil: Analysen haben ergeben, dass illegale Wolfstötungen in Schweden nach Einführung der Schutz- und Quotenjagd innerhalb weniger Jahre um fast 50 Prozent gestiegen sind. Es gibt keinen ersichtlichen Grund, warum ein „Bestandsmanagement“ hierzulande einen gegenteiligen Effekt hätte, zumal bereits seit Jahren Waffen- und Jagdscheinbesitzer „die Sache selbst in die Hand nehmen“. 89 Wölfe wurden in Deutschland seit 2000 nachweislich illegal getötet, wobei leider meistens kein Täter ermittelt oder rechtskräftig verurteilt wurde. Die Dunkelziffer dürfte um ein Vielfaches höher liegen. Spuren artenschutzrechtlicher Straftaten lassen sich leicht beseitigen. Wer die Entwicklung in einzelnen Wolfsterritorien aufmerksam verfolgt, stellt fest, dass die Elterntiere in einigen Rudeln überraschend häufig wechseln. Wenn immer wieder Elterntiere spurlos verschwinden, liegt der Verdacht nahe, dass sie stillschweigend beseitigt wurden. Die Hemmschwelle wird bei der Einführung einer legalen Bejagung sinken, denn das staatlicherseits legitimierte Töten von Tieren verringert ihre Wertschätzung. Nur wer Respekt und Ehrfurcht vor dem Leben seiner Mitgeschöpfe hat, wird sie akzeptieren. Schließlich bedeutet Akzeptanz nichts anderes als eine Person, eine Situation oder eben auch eine Tierart so anzunehmen, wie sie ist, auch wenn sie nicht den eigenen Vorstellungen entspricht. Die Wolfsjagd ist ein Relikt aus finsteren Zeiten, das in einer aufgeklärten Welt nichts zu suchen hat.