„Monteure leben gefährlich“

Nur noch das Gerippe bleibt von der Lufthansa-Maschine, die am 20. Dezember 1973 kurz vor dem Flughafen Neu-Delhi abstürzt.

Nonstop wie heutzutage schafft vor einem halben Jahrhundert noch keine Fluglinie die Strecke von Taiwan nach Frankfurt. Zwischenstopps gibt es damals in Hongkong, Bangkok, Neu Delhi, Karatschi und Athen. Ein Auf und Ab. Starts und Landungen, auf die sich Dietmar Felder im Dezember 1973 freut. Schließlich will der Monteur nach drei Monaten Arbeit in der Ferne zu Weihnachten zu Hause sein. Für seine Nichte und die Neffen hat er die schicken neuen digitalen Armbanduhren als Geschenke gekauft, die gibt es schon damals in Taiwan günstig.

Die Armbanduhren gehen am 20. Dezember nachts um 1.03 Uhr irgendwo im indischen Staub kurz vor dem Flughafen Neu Delhi verloren. So wie das gesamte Gepäck, überhaupt die untere Hälfte des Flugzeugs, die Triebwerke, die Tragflächen, am Ende das gesamte Flugzeug. „Wir konnten gut aussteigen, die Maschine lag flach auf dem Rollfeld, aber es brannte schon“, erinnert sich der heute 81-jährige Felder 50 Jahre später in seinem Wohnzimmer im Soltauer Ortsteil Tiegen an den verheerenden Flugzeugabsturz einer Lufthansa-Maschine.

Angelika Felder lernt ihren Mann erst lange nach dem Flugzeugabsturz kennen. Für die junge Familie gibt Dietmar Felder auch sein Legen als weltweit tätiger Monteur auf und wechselt in den Innendienst des Maschinenherstellers Artos. Foto: at

Dreimal musste die Lufthansa bis dahin in der Nachkriegsgeschichte Totalverluste melden. Diesmal überlebten zum Glück alle 109 Passagiere und die Crew, wenige wurden leichtverletzt. Felders Betriebszeitung titelte danach mit „Geschenktes Leben“.

Gemeinsam mit Felder gehen wir auf eine Reise in die Geschichte, als deutsche Firmen in Südostasien die Industrie aufbauen. Das Unternehmen Artos mit Sitz in Suderburg und Maschen liefert und montiert Textilmaschinen zum Spinnen, Weben und Färben von Baumwolle. „Wir haben die Infrastruktur dort in Gang gebracht“, sagt Felder, der in Oerrel aufgewachsen ist, und meint damit auch andere deutsche Firmen, die Straßen bauen, Telefonleitungen verlegen. „Wir haben das Land nicht ausgebeutet, wir haben es aufgebaut.“

Vor Taiwan war er fünf Jahre lang im Raum Mailand für den Kundendienst im Einsatz. Und ja, Felder ist auch nach dem Absturz am 20. Dezember geflogen. Nur zwei Tage später, um nach Hause zu kommen, aber auch danach: Er fliegt nach Thailand, auf die Philippinen, nach Indonesien, Ägypten, Nigeria, nach New York und auch wieder nach Mailand. Vieles dienstlich, später aber auch mit seiner Frau Angelika und den Söhnen in den Urlaub. Angst hat er nie, aber ein ungutes Gefühl begleitet ihn seit den Ereignissen in Neu Delhi, sodass er im Landeanflug genau beobachtet, ob die Maschine noch die richtige Höhe hat, um den Flughafen zu erreichen.

Nachts um drei Minuten nach ein Uhr schlägt die Maschine fast einen Kilometer vor der Landesbahn auf. 109 Passagiere und Besatzungsmitglieder kommen mit dem Schrecken davon.

Denn das war ein Grund für den Absturz im dichten Nebel von Neu Delhi, wie später im Dezember 1974 das Nachrichtenmagazin Der Spiegel die indische Luftfahrtbehörde zitiert. Die Maschine ist zu früh zu tief gegangen, touchiert gut 1000 Meter vor der Landebahn zunächst ein Mittel-Marker Häuschen, das Fahrwerk reißt ab, und knallt aufs Vorgelände der Landebahn 28.

Auf 139 Schreibmaschinenseiten ist festgehalten, welche Umstände zum Beinahe-Desaster führen: schlechtes fliegerisches Können, das Abweichen von zugelassenen und empfohlenen Anflugverfahren sowie ungenügende Instrumentenkontrolle, aber auch mangelhafte Wetter-Informationen seitens der Bodenstation und dadurch mitverursachte optische Täuschungen bei den Piloten. Der dicke Nebel wirft die Lichter der Maschine zurück. Die Flughafenwehr fährt zunächst in die falsche Richtung, kommt erst 18 Minuten nach dem Aufprall an, das Löschen ohne Schaum, dafür mit Wasser aus durchlöcherten Schläuchen gelingt nicht.

Die Maschine schleudert beim Aufprall einmal um die eigene Achse.

Felder erzählt vom Wetter in Neu Delhi, von tagsüber 30 Grad, von nächtlichem Frost, von dichtem Nebel, davon dass der Flughafen damals technisch nicht auf dem neuesten Stand ist, Einheimische sollen Pisten-Beleuchtung und Markierungslampen stehlen. Von einer Stewardess hört er, dass nicht der Kapitän, sondern ein Co-Pilot das Flugzeug landen soll, um Erfahrung in schwierigem Umfeld zu sammeln. Etwas, das auch im Untersuchungsbericht nachzulesen ist. Dennoch wird der Pilot am Ende der Untersuchung in den Ruhestand geschickt.

Zu viert fliegen die Artos-Monteure am 18. Dezember 1973 von ihrem Einsatz in Taipeh los. Der Jumbo-Jet ist vollbesetzt mit Deutschen, Franzosen und Australiern. Die Artos-Monteure sitzen im Landeanflug auf Neu Delhi im hinteren Bereich, Felder hat einen Fensterplatz. Nachdem das entsprechende Zeichen aufleuchtet, schnallt er sich an. Wie tief das Flugzeug zu dem Zeitpunkt ist, kann er nicht sagen. Es ist mitten in der Nacht, als der Aufprall es zerreißt. Erst sieht er noch eine Tragfläche brennen, dann ist sie weg. „Es war ein unheimlicher Ruck und wie im Traum.“

Und eins hat Felder noch überdeutlich vor Augen: „Ich hatte meine Schuhe für den Flug ausgezogen. Nur in Strümpfen bin ich aus dem völlig zerstörten Flugzeugwrack geklettert.“ Im dichten Nebel im Feuerschein rufen sich die Kollegen und finden zusammen. Die Crew verlässt zuletzt das brennende Flugzeug.

Dietmar Felder sieht noch wie das Triebwerk brennt. Dann reißt der Flügel ab.

„Da war noch immer niemand vom Flughafen in Sicht.“ Wo der überhaupt ist, wissen die Passagiere lange nicht. Für sie gefühlt Stunden dauert es, bis sie das Gebäude erreichen. Am nächsten Tag im Hellen wird klar, dass das Flugzeug beim Aufprall um die eigene Achse geschleudert, quasi mit dem Hintern zur Landebahn zum Stehen gekommen ist. Da sieht Felder auch, dass das Gepäck über ein riesiges Areal verteilt ist, vieles ist verbrannt, nur das Mitbringsel eines Mitreisenden hat Aufprall und Feuer unbeschadet überstanden: Die Buddha-Statue sieht er noch heute vor Augen, wie hingestellt in den Resten des Wracks.

„Ich hatte nur noch das, was ich am Leib trug.“ In einem flughafennahen Hotel werden die Gestrandeten untergebracht, keiner kommt zur Ruhe, Felder bekommt indische Schuhe. Sie sind ihm eine ganze Ecke zu groß.

Mittlerweile hat die Nachricht vom Absturz auch Deutschland erreicht. Felders Schwester hört es beim Frühstück im Radio und ist sich gleich sicher, dass ihr Bruder in der Maschine saß. „Sie hatte schon die richtige Vorahnung und ist dann mit meinem Schwager zum Flughafen nach Hannover gefahren, um sich zu informieren.“ Handys gibt es schließlich noch nicht.

Viele Monteure aus Deutschland wollen zu Weihnachten nach Hause.

Zwei chaotische Tage mit überforderten Indern liegen schließlich hinter den Reisenden, als die Lufthansa ein Flugzeug zum Abholen schickt. Zunächst geht es nach Frankfurt/Main. Dort werden die Verunglückten neu eingekleidet. „Den Lufthansa-Mantel hatte ich noch lange“, nickt Felder seiner Frau zu. Dann geht es weiter nach Hannover.

Die Lufthansa habe alle Verluste ersetzt. „Es ist ja alles verloren gegangen, nicht nur Hemden und Hosen, auch Ausweise, Portemonnaie und eben die Geschenke“, erzählt Felder. Psychologisch wird niemand betreut. „Das gab es damals nicht.“

Nach Weihnachten fliegt Felder wieder zurück nach Taipeh. Die Firma hat diesmal für jeden Monteur unterschiedliche Flugzeuge gebucht. Sicher ist sicher. Denn auch das schreiben sie in ihrer Mitarbeiterzeitung zum Absturz: „Monteure leben gefährlich.“