Eine Frohnatur, trotz allem

In Berlin erinnert seit 1989 eine Gedenktafel an die homosexuellen Opfer des Nationalsozialismus. Foto: ari

Am 11. Dezember 1937, einem Sonnabend, vormittags gegen 11 Uhr, wird ein 33-jähriger Mann ins Gerichtsgefängnis Celle verbracht. Gegen ihn liegt ein Haftbefehl des Amtsgerichts der Residenzstadt vor. Das Einlieferungsprotokoll vermerkt eine Körpergröße von 1,76 Meter, kräftige Statur, blonde Haare, graue Augen. Das Vergehen: „widernatürliche Unzucht“.

Mit dem alttestamentarischen Begriff umschreibt das Reichsstrafgesetzbuch seit seiner Erstfassung 1872 homosexuelle Kontakte zwischen Männern. Die Nationalsozialisten haben den Unzuchtsparagraphen 175 im September 1935 erheblich verschärft und erweitert. Es kommt nun nicht mehr auf den schwer zu führenden Beweis „beischlafähnlicher“ sexueller Handlungen an. Jegliche als homosexuell gewertete Zärtlichkeit kann jetzt zu einer Anklage führen. Es drohen bis zu fünf, in „schweren Fällen“ maximal zehn Jahre Haft. Im Kaiserreich hatte die Höchststrafe noch bei bei sechs Monaten gelegen.

Der Celler Untersuchungshäftling heißt Friedrich Dehnbostel und stammt aus Wolterdingen. Die Böhme-Zeitung dokumentiert erstmals seinen Leidensweg, der ihn bis in das KZ Mauthausen, dem größten Konzentrationslager der Nazis auf österreichischem Gebiet, führen wird.

Andere Zeiten erlebt

Der Ausgangspunkt der Recherche liegt in Hannover. Dort hat Rainer Hoffschildt in akribischer Arbeit ein bemerkenswertes Privatarchiv aufgebaut. Der mehrfach ausgezeichnete Schwulenaktivist sammelt seit Jahrzehnten alles, was ihm zum Themenkomplex Homosexualität in die Hände fällt. In seinem Schwullesbischen Archiv finden sich manche Kuriosität, herrlicher Kitsch der bunten Gay Community. Doch das sind eher Nebensächlichkeiten. Der eigentliche Wert der Sammlung liegt in der Dokumentation von Verfolgung und Diskriminierung. Hoffschildt wurde 1948 in Güstrow geboren. Schwule seiner Generation haben andere Zeiten erlebt.

Die Verfolgungsgeschichte homosexueller Männer im Dritten Reich wurde lange vernachlässigt oder sogar bestritten. Aufarbeitung fand eher durch Organisationen und Aktivisten der Schwulenbewegung statt als durch die universitäre Geschichtswissenschaft, beklagt der Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD). Hoffschildt ist einer von denen, die das Feld als Autodidakten mit viel Herzblut beackert haben. Die NS-Zeit mit lokalen Fokus auf Hannover bildet den Schwerpunkt seines umfangreichen Privatarchivs.

Auf BZ-Anfrage durchsucht Hoffschildt seine Sammlung auf Fallbeispiele aus dem Raum des heutigen Heidekreises. Dabei stößt er auf einen Dehnbostel aus Soltau. Der Name war 1989 in einem Tonband-Interview mit Günther Sch. gefallen und schlummert seitdem als vergessene Notiz in den Tiefen des Archivs. 1989 war Dehnbostel schon 15 Jahre tot. Die Angaben des Interviewpartrners über ihn waren vage. Günther Sch. berichtet, dass er „Friedel“ im Wielandseck, einem in der Nachkriegszeit unter schwulen Männern beliebten Lokal in Hannover, kennengelernt habe. Dieser sei im Dritten Reich KZ-Häftling gewesen. Dort hätten die Nazis ihn „kaputtgeschlagen“. „Der hatte das Nervenzucken gekriegt.“ Doch das KZ lässt sich nicht lokalisieren. Für Hoffschildt ist der ganze Fall damals nicht besonders interessant. Er sucht für ein Buch Fallbeispiele aus Hannover und geht der Biografie des Mannes auf der Heide nicht weiter nach. 2022 gibt die Presseanfrage dem Archivar Anlass, sich den Fall noch einmal anzuschauen.

Vieles verändert sich in mehr als drei Jahrzehnten, auch die Möglichkeiten für private Geschichtsforscher sind heute andere. So sind inzwischen zum Beispiel die Bestände der aus dem Internationalen Suchdienst der Nachkriegszeit hervorgegangenen Arolsen Archives frei zugänglich. Dort lagern Millionen Dokumente über NS-Verfolgte. Die Personalkarte mit der Häftlingsnummer 23683 betrifft einen Gärtner aus Wolterdingen: Friedrich Dehnbostel, eingewiesen in das Konzentrationslager Mauthausen am 11. Dezember 1942 durch die Kripo Hannover.

Eine dünne Gefängnisakte blieb erhalten

Die Anfänge seiner Verfolgung lassen sich aus einer dünnen Gefängnisakte rekonstruieren, die unter dem Aktenzeichen 1GS.703/37 im Niedersächsischen Staatsarchiv verwahrt wird. Neben dem Haft-Annahmeersuchen des Amtsgerichts und dem Einlieferungsprotokoll finden sich dort drei leere Briefumschläge, vom Inhaftierten adressiert an Kontaktpersonen in Hannover, Wittingen und Soltau. Dann schon die Entlassungsverfügung, genehmigt drei Tage vor Heiligabend. Man könnte es fast für einen Akt vorweihnachtlicher Gnade halten. Doch für Dehnbostel geht es nicht in die Freiheit, sondern per Sammeltransport ins nächste Gefängnis, nach Hannover. „Die Entscheidung über Fesselung wird von dem Vorsteher des Gerichtsgefängnis Celle getroffen werden“, hat der Oberstaatsanwalt verfügt. In Hannover soll ihm und weiteren Angeklagten der Unzuchtsprozess gemacht werden. Die Akten zum Verfahren „Brandt u.a.“ sind verschollen. Es ist somit nicht bekannt, zu welcher Strafe Dehnbostel Anfang 1938 verurteilt worden ist.

Jedoch scheint er um das Jahr 1940 vorübergehend noch einmal in Freiheit gekommen zu sein. In diesem Jahr geriet er laut den Recherchen Hoffschildts ein zweites Mal in Haft, wieder aufgrund eines homosexuellen Kontakts. Diesmal wird ihm in Bielefeld der Prozess gemacht, wo seine Eltern zu dieser Zeit leben und auch Dehnbostel zwischenzeitlich seinen Wohnsitz angemeldet hat. Die Nazi-Diktatur hat sich weiter radikalisiert, es herrscht Krieg. Diesmal wird Dehnbostel die ganze Härte des NS-Regimes zu spüren bekommen. In der Terminologie der Nazis gilt er jetzt wegen mehrfacher Verurteilung als „gefährlicher Gewohnheitsverbrecher“. Bis zum Kriegsende 1945 wird er keine Minute mehr in Freiheit verbringen. Das Gericht hat ihn mutmaßlich zu einer zeitlich nicht befristeten Sicherungsverwahrung verurteilt.

Deportation nach Mauthausen

Die Überstellung in das KZ-System Mauthausen, in dem während der NS-Herrschaft rund 200000 Menschen inhaftiert wurden, von denen mehr als die Hälfte die Haft nicht überlebten, beruht offensichtlich auf das Abkommen zwischen Reichsführer-SS Heinrich Himmler und NS-Justizminister Otto Georg Thierack vom 18. September 1942. Dieses sah vor, dass alle Sicherungsverwahrten des Reichs von den Justizanstalten an die Konzentrationslager zur „Vernichtung durch Arbeit“ zu überstellen sind. „Allein 11098 Menschen und damit die Mehrzahl dieser Gruppe wurden ins KZ Mauthausen deportiert, wo eine Unterscheidung ihrer Haftstrafen als unbedeutend erachtet wurde und die verschiedenen Sub-Gruppen unter dem gemeinsamen Label ‚SV‘ erfasst wurden“, heißt es im Jahrbuch 2015 der Mauthausen-Gedekstätte. „Sie starben im KZ Mauthausen wie auch in anderen Lagern in äußerst kurzer Zeit, allein quantitativ betrachtet starben von den 11098 Deportierten bis Juni 1945 6710 und damit 60,5 Prozent.“

„Er war einfach so“

Dehnbostel, der in den Mauthausen-Außenlagern Gusen und Steyr inhaftiert war, gehörte zur Minderheit, die den Terror überlebte. Nach dem Krieg kehrte er zurück nach Wolterdingen. Seine dort lebenden Familienangehörigen kannten und akzeptierten seine Homosexualität, so hat er es einst seinem Bekannten Günther Sch. geschildert, so schildert es im Gespräch auch Ingrid van Lessen, deren verstorbener Großvater väterlicherseits ein Bruder Dehnbostels ist. „Er war einfach so“, habe ihre 92-jährige Mutter Dora gesagt, als sie ihr von den BZ-Recherchen erzählte. Im übrigen vor allem ein sehr fröhlicher Mensch, der gerne sang. Friedrich Dehnbostel verstarb 1974, Van Lessen hat ihn als Jugnedliche noch erlebt. Auch sie erinnert sich an eine „Frohnatur“, in älteren Jahren mit Brille, der als Gärtner bei Blumen Müller in Soltau arbeitete. „Über seine KZ-Zeit hat er, soweit ich weiß, nie gesprochen.“