„Das Land schmollt und mauert“

„Dieser Zug hält hier nie“ steht auf den Plakaten der Gegner einer Bahn-Neubaustrecke durch die Lüneburger Heide. Für den abgebildeten ICE stimmt das sicherlich, doch Regionalzüge könnten eine ICE-Neubaustrecke für sich nutzen, findet Pro Bahn. Foto: ari

Das Vorhaben einer ICE-Neubaustrecke zwischen Hamburg und Hannover stößt im Heidekreis und darüber hinaus auf massive Kritik. Die Bahn würde sich vom Ergebnis des Dialogforums Schiene Nord von 2015 lossagen, heißt es von den Bürgerinitiativen.

Der damals in Celle gefundene Alpha-E-Kompromiss sieht vor, Bestandsstrecken auszubauen und auf einen Neubau zu verzichten. Anfang des Jahres bewertete die DB-Netz-AG den Kompromiss jedoch als unzureichend. Das Abrücken der Bahn von Alpha-E sei ein „enormer Vertrauensbruch“, klagte CDU-Landtagsabgeordneter Dr. Karl-Ludwig von Danwitz jüngst als Redner einer großen Protestveranstaltung in Bispingen (BZ vom 11. Juli: „Die Ohnmacht der Lokalpolitik“). Landrat Jens Grote, alle Bürgermeister aus dem Heidekreis und auch der Munsteraner SPD-Bundespolitiker Lars Klingbeil haben sich klar gegen die Neubaustrecke positioniert. Gleiches gilt für die Landesregierung.

Der Fahrgastverband Pro Bahn vertritt einen anderen Standpunkt. „Die Ablehnung der Neubaustrecke verspielt zahlreiche Chancen für Niedersachsen“, heißt es in einer Erklärung des Landesverbands Niedersachsen/Bremen aus dem Februar. Der Verband spricht sich für einen Neubau und gegen Alpha-E aus. Im BZ-Gespräch erläutert Pro-Bahn-Landesvorsitzender Malte Diehl die Gründe dafür.

Herr Diehl, warum lehnt Pro Bahn den Alpha-E-Kompromiss so vehement ab und beharrt auf der Neubauvariante?
Malte Diehl: Hauptgrund ist, dass der Kompromiss 2015 beschlossen wurde, ohne das durchaus vorgetragene verkehrliche Fachwissen zu berücksichtigen. Es sollten lediglich die Bürgerinitiativen beruhigt werden, die Alpha-E einforderten. Das Konzept trägt nicht einmal den damaligen Prognosen zur Entwicklung des Zugverkehrs Rechnung. Und den Veränderungen, die seitdem hinzugekommen sind – Stichwort Deutschlandtakt – wird der Kompromiss schon gar nicht gerecht. Schon 2015 stellten Gutachten fest, dass der im Alpha-E-Konzept konzipierte Streckenausbau zwischen Hamburg und Hannover so mangelhaft ist, dass bei seiner Fertigstellung sofort der nächste Ausbau erfolgen müsste. Selbst die damals prognostizierten Zugzahlen wären mit den vorgesehenen Maßnahmen nicht stabil abzuwickeln. Das Problem ist, dass Fernverkehr, Güterverkehr und Regionalverkehr die Strecke gemeinsam nutzen. Güter- und Regionalverkehr gehen ganz gut zusammen. Aber sobald Züge des Fernverkehrs mit anderen Geschwindigkeiten hinzukommen, entstehen Trassenprobleme. Der Streckenabschnitt Hannover-Hamburg zählt zu denjenigen, auf denen in Deutschland die meisten Verspätungen entstehen, weil sich Güter- und Personenzüge ständig im Weg stehen. Die Ausbaupläne wurden 2015 so bemessen, dass sie über 2030 hinaus nicht tragfähig gewesen wären. Jetzt ist der Deutschlandtakt hinzugekommen, das Ziel einer bundesweit vereinheitlichten Taktung im Regional- und Fernverkehr. Der Plan sieht vor, die Angebote im Fern- und Regionalverkehr noch einmal erheblich auszuweiten. Alpha-E bildet das nicht ab und würde zu einem chaotischen Dauerzustand führen. Züge müssten massiv auf andere Strecken umgeleitet werden, konkret über Rotenburg und Verden. Diese Umgehungsstrecke ist schon heute überlastet, sie wird gerade ein bisschen ausgebaut. Aber auch nach dem Ausbau bleibt sie im Regelbetrieb überlastet.

Oft wird die reguläre Zeitersparnis für Reisende als Argument für eine Neubaustrecke ins Feld geführt. Wie relevant ist dieser Punkt?
Zeitersparnis ist ein Aspekt unter mehreren, natürlich kein unwichtiger. Die Fahrzeit auf der Gesamtstrecke von Hamburg nach München beträgt immer noch knapp 6 Stunden, vielleicht etwas weniger, wenn man einen schnellen Zug erwischt. Eigentlich müsste sie noch um eine gute Stunde schrumpfen, damit die Bahn eine wirklich attraktive Verbindung anbieten kann. Es gibt noch andere Streckenabschnitte, auf denen die Fahrzeiten durch Neu- oder Ausbauten massiv verkürzt werden sollen. Die 15 bis 20 Minuten, die zwischen Hamburg und Hannover eingespart werden könnten, würden darauf gut einzahlen. Aber bevor ich mich um Fahrzeitverkürzungen kümmern kann, muss ich sicherstellen, dass ich den zukünftigen Fahrplan überhaupt fahren kann. Mit dem, was bei Alpha-E geplant ist, funktioniert das nicht. Damit kriege ich die nötigen Zugzahlen nicht auf die Strecke. Das liegt daran, dass es weiter große zweigleisige Abschnitte geben würde, nämlich im Prinzip alles südlich von Uelzen. Ich habe vor rund drei Monaten auf einer Zugfahrt von Hannover nach Hamburg mitgezählt: Mir sind zwischen Celle und Uelzen neun Güterzüge entgegengekommen auf 50 Kilometern, plus Regional- und Fernverkehr. Da kann sich jeder ausmalen, was passiert, wenn mal ein Zug liegenbleibt und nur noch ein Gleis zur Verfügung steht.

Nach ihrer Ansicht hat sich die Bahn 2015 auf einen völlig untauglichen Kompromiss eingelassen. Wie kann das sein?
Ich denke, die Ingenieure der Bahn wussten damals wie heute, dass das so nicht umsetzbar sein wird. Aber es gab politischen Druck. Es gab übrigens auch ein Minderheitenvotum, an dem Pro Bahn beteiligt gewesen ist. Es gab also kein Einheitsvotum und keinen Konsens. Das sollte man nicht vergessen. Ich kenne den Vorwurf, die Bahn würde sich nicht an die Absprachen von damals halten. Da beruft man sich auf den Bundesverkehrswegeplan, in dem keine Neubaustrecke vorgesehen sei. Aber im Schienenwegeausbaugesetz wurde die Möglichkeit einer Neubaustrecke durchaus offengehalten. Die Bahn folgt den Vorgaben aus Berlin. Was Hannover will, ist zweitrangig. Die Bahn ist ein Bundesunternehmen.

Man kann jeden Euro nur einmal ausgeben. Das 9-Euro-Ticket führt vor Augen, wie marode der Regionalverkehr an vielen Stellen ist. Im Heidekreuz, ich weiß nicht, ob Sie das so mitbekommen...
Oh ja! Ich bekomme inzwischen fast täglich Meldungen zum Bahnunternehmen Start. Wir dachten eigentlich, mit dem Abgang von Erixx hätten wir die Probleme hinter uns gelassen, aber es ist noch schlimmer geworden...

„Das der Regionalverkehr mit Start schlecht läuft, hat nichts mit Geld zu tun"

...und da sagen natürlich viele Bahnreisende im Heidekreuz: Der größte Handlungsbedarf besteht bei der Ertüchtigung des Regionalverkehrs, nicht beim vergleichsweise komfortablen Fernverkehr.
Dass der Regionalverkehr mit Start schlecht läuft, hat nichts mit Geld zu tun. Das liegt daran, dass Start große Probleme hat, vertragliche Verpflichtungen zu erfüllen. Das bekommen die seit über einem halben Jahr nicht hin, weiß der Teufel warum. Andere Unternehmen schaffen das besser. Ich weiß, dass das Schienennetz im Heidekreuz nicht überall im Top-Zustand ist. Aber zwischen Langenhagen und Buchholz wurde erst vor wenigen Jahren saniert. Da kann mir keiner sagen, dass man da noch einmal 100 Millionen Euro reinstecken muss. Die Probleme liegen meines Erachtens zum großen Teil beim Anbieter, der das nicht hinbekommt.

Die Eingleisigkeit führt bei Verspätungen zu Verstärkungseffekten, weil auf entgegenkommende Züge gewartet werden muss.
Zwischen Soltau, Uelzen und Bremen verkehren die Züge im Zweistundentakt, da sehe ich dieses Problem nicht. Auf der Nord-Süd-Strecke haben Sie recht. Aber auch dort gibt es Kreuzungsmöglichkeiten, mehr als auf anderen Strecken. Verspätungen können eigentlich abgebaut werden. Dass das nicht passiert, hat ganz massiv mit der Betriebsorganisation bei Start zu tun.

„Fahrzeit zwischen Soltau und Hamburg könnte halbiert werden"

Zurück zum Fernverkehr. Für die Menschen an der Strecke bringt eine ICE-Neubautrasse nur Nachteile, die Züge halten nicht im Heidekreis. Haben Sie Verständnis für deren Unmut?
Ich habe grundsätzlich natürlich Verständnis für Bedenken. Gleichzeitig wundere ich mich aber, dass die Menschen aus Lüneburg, Celle und Uelzen nicht viel stärker auf die Barrikaden gehen. Die würden, wenn Alpha-E realisiert wird, noch massiver als bisher belastet. Und zur Aussage, dass die Züge auf der Neubaustrecke den Heidekreis ausnahmslos ohne Halt durchqueren: Es wird nie gesehen, dass das gar nicht zwingend so sein muss. Es kommt immer darauf an, was man aus der Sache macht. Viel klüger als zu schmollen, wäre es doch zu sagen: Wenn hier schon eine Neubaustrecke entsteht, dann soll sie bitte sehr auch für den Regionalverkehr genutzt werden.

Das ist in den Planungen aber nicht so vorgesehen.
Es ist nicht vorgesehen, weil das Land mauert. Niedersachsen als Besteller des Regionalverkehrs müsste auf regionale Haltepunkte drängen. Man könnte durchaus stündlich einen Regionalexpress von Hamburg nach Hannover mit Zwischenhalten unter anderem in Bispingen, Soltau und Bad Fallingbostel fahren lassen. Die Kapazität auf der Strecke wäre vorhanden. Das könnte eine wunderbare Ergänzung zum bestehenden Regionalverkehr sein. Die Fahrzeit von Soltau nach Hamburg könnte so halbiert werden.

(Der Fahrgastverband Pro Bahn hat konkrete Vorschläge zur optimalen Nutzung einer neuen ICE-Trasse zwischen Hamburg und Hannover vorgelegt. Unter anderen fordert der Verband, die Neubaustrecke analog zum Nürnberg-München-Express auch für schnellen Regionalverkehr zu nutzen. Dafür müsste die geplante ICE-Neubaustrecke, die weitgehend dem Verlauf der Autobahn 7 folgen soll, mit der Amerikalinie, dem Schienennetz des Regionalverkehrs zwischen Hamburg und Hannover, verknüpft werden. Dies würde nach den Plänen von Pro Bahn idealerweise durch zwei Verbindungskurven geschehen: Die eine soll bei Bispingen von der Neubaustrecke abzweigen und in Soltau an die bestehende Amerikalinie andocken, die andere hinter Bad Fallingbostel die Gleise des Regionalverkehrs mit der Neubaustrecke verbinden. Ein „Hamburg-Hannover-Express“ könnte die Strecke bedienen, indem er in der Hansestadt beziehungsweise Hannover startet und mit 200 Stundenkilometern die Passagen der Neubaustrecke sowie mit 120 Stundenkilometern die Verbindungskurven und das bestehende Netz nutzt. Bispingen könnte ans Bahnnetz angeschlossen sowie Fahrzeiten erheblich verkürzt werden, frohlockt der Fahrgastverband. Allerdings wäre die Realisierung mit erheblichen Zusatzkosten verbunden. Die beiden Verbindungskurven müssten zusätzlich gebaut, die Heidebahn zwischen Soltau und Bad Fallingbostel ausgebaut und elektrifiziert sowie zwei zusätzliche Bahnsteiggleise am Bahnhof Soltau errichtet werden. Eine preiswertere Alternative wäre ein Turmbahnhof über der Amerikalinie mit Zubringerverkehr aus Richtung Soltau und Muster.)

Wie könnte die Bahn besser mit lokalem Protest umgehen? Bei Stuttgart 21 hat eine Volksabstimmung Befriedung gebracht, könnte das ein Vorbild sein?
Bei Stuttgart 21 hat man zurecht nicht nur die Stuttgarter, sondern das ganze Bundesland abstimmen lassen, weil die Betroffenheit weit über Stuttgart hinaus reichte. So etwas hätte ich mir auch in Niedersachsen vorstellen können.

Jetzt ist es zu spät dafür?
So lange sich das Land bockig hinstellt und sich gegen jede Neubaustrecke wehrt – das betrifft ja auch die Strecke zwischen Hannover und Bielefeld – gibt es keine wirkliche Basis dafür. Zwischen Fulda und Frankfurt ist ebenfalls eine Neubaustrecke geplant, da geht man mit dem Thema viel offener um, diskutiert breiter, nicht nur regional begrenzt.

Abgesehen von Ihren persönlichen Präferenzen: Was glauben Sie, wie es weitergehen wird?
Ich glaube schon, dass eine Neubaustrecke derzeit die deutlich wahrscheinlichere Variante ist. Einfach weil die betrieblichen Fakten massiv dafür sprechen. Wenn die neuen Beschleunigungsgesetze angewendet werden besteht die Chance, dass für den Bau keine 20 Jahre aufgrund überlanger Rechtsstreitigkeiten benötigt werden, sondern vielleicht eher fünf oder sechs. Selbst die längenmäßig vergleichbare, topografisch aber viel anspruchsvollere Strecke zwischen Köln und Frankfurt wurde in sieben Jahren nach Baugenehmigung fertig. Ich hoffe, dass eine neue Landesregierung ab Oktober die Möglichkeiten erkennt, die sich aus einem Neubau auch für den Regionalverkehr ergeben könnten. Die Wahrscheinlichkeit, dass man sich für die andere Variante, Alpha-E in der jetzigen Form, entscheidet, schätze ich auf 20 bis 30 Prozent. Der Ausbau auf Alpha-E-Standard bei laufendem Betrieb würde sicher 25 Jahre dauern. In dieser Zeit wäre der Schienenverkehr sehr stark eingeschränkt.