Advents-Nostalgie in 24 Kapiteln

In der Vorweihnachtszeit ist das (Vor-)lesen ein besonders schönes Ritual. Foto: Pixelio / Rudolph

In der Vorweihnachtszeit ist das (Vor-)lesen ein besonders schönes Ritual. Foto: Pixelio / Rudolph

„Wenn man sich‘s genau überlegt, fängt der erste Dezember schon am Abend vorher an“, sagt Annerose, „weil man‘s kaum noch erwarten kann.“ Mit dieser philosophischen Reflexion über die Adventszeit aus dem Munde eines kleinen Mädchens, das mit seinem Bruder vor dem gemeinsamen Adventskalender steht, beginnt ein Buch, das selbst Ausgangspunkt für etwas wurde, das viele Kinder heute kaum erwarten können: das abendliche Vorlesen des nächsten Kapitels ihres Adventsbuches, vom 1. bis zum 24. Dezember.

Die Adventgeschichten stellen für den Buchmarkt längst eine eigene Gattung dar, egal ob die Kapitel Abend für Abend aufeinander aufbauen, oder ob 24 weihnachtliche Geschichten namhafter Kinderbuchautoren zu einem Sammelband zusammengefasst sind. Entscheidend ist der Zauber, den diese Bücher verbreiten, wenn sich die Kinder abends in ihre Betten kuscheln und die Mutter oder der Vater das seit dem Vorabend mit Spannung erwartete nächste Kapitel aufschlägt.

Wer solche Geschichten als Kind Jahr für Jahr in der Vorweihnachtszeit selbst gehört hat und nun den eigenen Kindern vorliest, dem erscheint es nur schwer vorstellbar, dass es diese Tradition vor gar nicht so langer Zeit noch gar nicht gegeben hat. Aber es ist noch keine 50 Jahre her, dass Barbara Bartos-Höppner mit „Schnüpperle – Vierundzwanzig Geschichten zur Weihnachtszeit“ den Prototypen aller Adventsbücher veröffentlicht hat.

Abend für Abend für Abend – das bleibt fürs Leben

1969 war das, und Ausgangspunkt war ein Adventskalender wie der des fünfjährigen Schnüpperle und seiner Schwester Annerose. „Als ich ein kleiner Junge war, nähte meine Mutter aus rot-weißem Bauernkaro 24 Beutelchen, die sie auf eine Bahn von grünem Stoff heftete. Das wurde mein erster Adventskalender, ich habe ihn heute noch“, erinnert sich Burghard Bartos. Zehn Jahre später habe seine Mutter aus diesem Adventskalender einen zweiten entwickelt. Ihr Gedanke dabei: „Abend für Abend für Abend im Advent eine schöne Geschichte vorgelesen zu kriegen, das bleibt fürs ganze Leben.“

Bartos-Höppner hatte mit ihren 24 Vorlese-Geschichten, in denen ein kleiner Junge und seine Familie den Advent erleben, einen Nerv getroffen. „Aus vielen Leserbriefen wissen wir, dass Schnüpperle generationsübergreifend gelesen wird“, sagt der Sohn der Autorin. „Erst lesen die Eltern ihren Kinder vor, dann die Kinder ihren Kindern. Drei Generationen sitzen um den Adventskranz und freuen sich.“

In seinem Erscheinungsjahr hätte kaum jemand Schnüpperle eine solche Karriere zugetraut. „Damals, in den 68ern, hatten Pädagogik, Didaktik und Kritik gerade die Heile-Welt-Problematik beim Wickel“, erinnert sich Bartos. Schnüpperles Bilderbuchfamilie lässt die Autorin, die zeitweise in Tostedt gelebt hat, in einer ländlichen Kleinstadt-Idylle agieren. Das Buch seiner Mutter sei für die Kritiker „ein gefundenes Fressen“ gewesen, sagt Bartos. Heute haben auch alternative Kreise Schnüpperle längst ins Herz geschlossen. „Die allerschönste Tradition?“, fragt die „Veganbloggerin“ Johanna Polle und gibt die Antwort gleich hinterher: „Das gemeinsame Lesen im wohl schönsten Weihnachtsbuch, das je gedruckt wurde. Es gibt kaum eine schönere Kindheitserinnerung als die Abende an denen meine Mama mir aus dem Schnüpperle-Buch vorgelesen hat.“

Das besondere an Schnüpperle und all seinen Adventsgeschichten-Nachfolgern ist, dass diese Bücher ein wohliges Nostalgiegefühl erzeugen, das bereits während der Kindheit als solches erlebt wird. „Wenn jedes Jahr die alten Bücher erneut rausgeholt werden, stimmen sich die Kinder dadurch auf Weihnachten ein“, sagt Annika Lüdemann von der Soltauer Bibliothek Waldmühle. Jungen und Mädchen erleben ein ihnen aus den Vorjahren vertrautes Gefühl wieder, „heimelich und sicher“. Welches Buch diese Atmosphäre letztlich erzeugt, ist natürlich individuell verschieden und eigentlich auch nebensächlich. Die Auswahl ist inzwischen riesig.

Dass ihr kleines Buch einer ganzen Gattung den Weg bahnen würde, hat Barbara Bartos-Höppner wohl kaum für möglich gehalten. „Wir haben noch das Ablehnungsschreiben des Union Verlags, der moniert, der Text wende sich zum einen an die Kinder, zum anderen aber an die Erwachsenen“, sagt Batos. „So ein Kuddelmuddel ohne exakte Zielgruppe möchte man, bitteschön, nicht verlegen.“ Den Union Verlag gibt es längst nicht mehr, Schnüpperles 24 Advents-Abenteuer erlebten in diesem Herbst ihre 49. Auflage.

BZ-ArchivStefan Grönefeld