„Man spürt es, wie man im Nebel die Nässe spürt“

Hayrettin Ökçesiz hat nach einer Auseinandersetzung mit Staatspräsident Erdoğan die Türkei verlassen. Er lebt heute mit seiner Familie in Soltau. Foto: vo

Seit sechseinhalb Jahren lebt Hayrettin Ökçesiz mit seiner Familie im Heidekreis. Der renommierte türkische Rechtsprofessor und -philosoph hatte sich mit Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan angelegt, Anzeige gegen ihn erstattet und schließlich sein Heimatland verlassen, weil er sich bedrängt und nicht mehr sicher fühlte. Der Fall hat vor zehn Jahren Schlagzeilen gemacht. Ökçesiz ist 1953 in Aksaray/Türkei geboren, machte dort das Abitur und studierte danach an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Istanbul-Universität. Als Stipendiat des türkischen Justizministeriums schrieb er an der Universität Göttingen seine Doktorarbeit im Bereich Haftungsrecht. Ab 1984 arbeitete er dann als Dozent am Lehrstuhl für Rechtsphilosophie und -soziologie an der Istanbuler Marmara-Universität. 1999 folgte er einem Ruf an die Akdeniz-Universität in Antalya, wo er als Professor und Gründungsdekan der rechtswissenschaftlichen Fakultät arbeitete. 2013 trat Ökçesiz in den Vorruhestand.

Suspendierung nach einem Jahr

Anschließend begann er an der privaten Istanbuler Aydın Universität Vorlesungen zu halten, wurde dort aber nach einem Jahr von dieser Tätigkeit suspendiert. Auslöser waren mehrere Verfassungsklagen und eine Strafanzeige, die er gegen Erdoğan nach dessen Wahl zum türkischen Präsidenten erstattet hatte. Dieses unbotmäßige Verhalten hatte Konsequenzen. Die Leitung der Universität kündigte, nach Überzeugung von Beobachtern offenkundig unter Druck gesetzt, Ökçesiz’ Dreijahresvertrag. Ihm wurde eröffnet, er habe dem Ansehen der Hochschule geschadet. Es es sei ihm jedoch auch bedeutet worden, man könne sich schlicht nicht leisten, ihn zu halten, hieß es 2015 in der Berichterstattung deutscher Medien. Denn die private Universität sei abhängig von den staatlichen Institutionen im eigenen Haus. Diese legten fest, wie viele Studenten die Hochschule aufnehmen darf. Es folgten gerichtliche Auseinandersetzungen zwischen der Hochschule und dem Professor, für den der erste Prozess erfolgreich endete. Dann schob die Universität eine zweite Klage hinterher, diesmal mit einer hohen Schadenersatzforderung. Für die nicht abgeleisteten 20 Monate aus seinem Dreijahresvertrag sollte Ökçesiz sein volles Gehalt doppelt zurückzahlen — obwohl er dieses Geld noch gar nicht erhalten hatte. Für den Professor, der nebenher als Kolumnist für eine oppositionelle Zeitung tätig war, hätte eine Verurteilung den finanziellen Ruin bedeutet. Ökçesiz blieb bei seiner konsequenten Haltung. Er verließ mit seiner Familie die Türkei, ging nach Deutschland und lebt heute in Soltau.

Herr Ökçesiz, in Artikel 5 des Grundgesetzes heißt es: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten. Eine Zensur findet nicht statt.“ Was bedeutet das für Sie?

Hayrettin Ökçesiz: Sehr viel. Dabei liegt die Gedankenfreiheit im Fundament. Man muss etwas tiefer greifen. Das Denken muss reif und vollständig sein. Reifes und freies Denken ist nur ohne Angst und Eigennutz möglich. Das erfordert die Bereitschaft, sich zu opfern, Man denkt also nur dann, wenn man bereit ist, Konsequenzen in Kauf zu nehmen. Andernfalls ist es nur Kalkulation, die KI bald viel besser schaffen wird.

Was macht Meinungs- und Pressefreiheit für Sie aus?

Diese Freiheiten bedeuten für mich das Stillen von Grundbedürfnissen des Individuums als ein Mangelwesen, als der Träger der Menschenwürde „conditio sine qua non“ – unabdingbare Voraussetzung. So eine Tragweite hat diese Freiheit für jeden Mitmenschen. Sie ist, mit Kant gesagt, ein Schutzschild aller Freiheiten. Für den französischen Mathematiker und Philosophen Blaise Pascal ist sie die Freiheit dessen, was dem Menschen seine Würde verleiht, nämlich die Freiheit des Denkens. Es ist ein Bündel von Gedankenfreiheit, Pressefreiheit, Wissenschaftsfreiheit, Kunstfreiheit. Sie ist die Urquelle aller geistigen Freiheiten und deren Praxen wie zum Beispiel Versammlungs- und Demonstrationsrechts. Sie ist also der Kern der Menschenwürde, die im Artikel 1 des Grundgesetzes als unantastbar gilt. Um diese Würde zu erlangen und zu bewahren, brauchen wir innere und äußere Ausrüstungen: Die eine ist ein Grundrecht, das im Artikel 20 des Grundgesetzes erwähnt wird und jeden Bürger berechtigt und verpflichtet es zu leisten, wenn keine andere Aushilfe möglich ist. Dieses Grundrecht ist das Widerstandsrecht. Das ist das Wesen allen Rechts überhaupt. Das innere Rüstzeug ist unserer Mut zum Denken und Handeln, also noch einmal mit Kants Wahlspruch gesprochen: Sapere aude! „habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ – aber auch die Bereitschaft, dadurch Schaden und Gefahren in in Kauf zu nehmen.

Wie haben Sie persönlich, Ihre Angehörigen und Freunde Zensur oder Unterdrückung der Meinungsfreiheit erlebt?

Unter jeder Machtstruktur ist das Individuum mehr oder weniger und irgendwie in seinen Freiheiten gefährdet. Wenn Sie sich kritisch verhalten und das so kritisch, dass Sie die Interessen dieser Machtgebilde gefährden oder gefährden könnten, dann sind sie auch gefährdet: Das kann Mobbing, cancel culture, Suspendierung, ja sogar Freiheitsentzug und, durch Zivilprozesse unter Schadenersatzansprüche, eine Enteignung bedeuten. Am Ende auch den Tod. Denken Sie an Assange, an Nawalny, an viele andere, deren Namen wir in diesem Zusammenhang immer wieder hören. Ich bin also suspendiert worden und war ein „gefährdeter Wissenschaftler“ wegen meiner rechtsphilosophischen und atatürkistischen Engagements gegen islamistische Vernichtung der türkischen Republik und deren Verfassung.

Was bedeutet atatürkistisches Engagement und warum gerieten Sie damit in Konflikt mit dem türkischen Staat?

Atatürkistisches Engagement bedeutet, das der Staat und die Gesellschaft sich in ihren Angelegenheiten und Zielen wie auch in ihrer Existenz nicht den Dogmen der Scharia, sondern ganz aufklärerisch nach Verstand und der Wissenschaft richten müssen. Nämlich die Vernunft und kritisches Denken sollen die Wegweiser sein. Der Staat und die Gesellschaft sollen sich laizistisch gestalten. Der Staat soll dem Menschen dienen und nicht umgekehrt. Also ich geriet nicht mit dem türkischen Staat in Konflikt, der nach Art. 2 der Verfassung „ein laizistischer, demokratischer und sozialer Rechtsstaat“ sein soll. Ich geriet mit einem Usurpator in Konflikt, der mit allen möglichen Mitteln und Wegen die Staatsmacht an sich gerissen hat. Gegen diesen Missbrauch habe ich mich gestellt und drei Verfassungsklagen und eine Strafanzeige gegen Erdoğan wegen Verfassungsbruch in Gang gesetzt. Ich habe die Öffentlichkeit dazu aufgerufen, mit mir zu handeln. Ich wollte das Gewissen und Bewusstsein der Mitbürger aufwecken. Ich bin mir sicher, dass mein Bemühen positive Spuren hinterlassen hat.

Worum ging es dabei?

In diesen allen Beschwerden ging es um verschiedene Verfassungsverletzungen von Erdoğan und auch durch ein manipuliertes Parlament. Man nennt es heutzutage „Illiberale Demokratie“ um nicht Diktatur zu nennen.

Wie muss man sich eine Suspendierung vorstellen?

Damit meine ich, dass das Rektorat der Universität, an der ich lehrte, den Arbeitsvertrag gekündigt hat, nachdem ich Erdoğan strafrechtlich wegen seines Verfassungsbruchs angezeigt hatte.

Wurden Sie oder Ihre Angehörigen direkt bedroht?

In solcher Lage spürt man es, wie man im Nebel die Nässe spürt und zwar unmittelbar und dicht an der Haut. Konkret war es noch nicht soweit.

Haben Sie Ihr Heimatland freiwillig verlassen oder sind Sie geflüchtet?

Die Philipp-Schwartz-Initiative der Humboldt-Stiftung hatte mir unter der Bezeichnung „gefährdeter Wissenschaftler“ eine Gastprofessur an der Frankfurter Goethe-Universität für drei Jahre ermöglicht. Ansonsten leben wir von unseren Ersparnissen und Einkommen aus der Türkei. Es war keine Flucht.

Warum haben Sie nicht eingelenkt und so Ihre berufliche Existenz, ein gesichertes Einkommen aufgegeben?

Ich lehrte seit Jahrzehnten am Pult über Recht und Gerechtigkeit. Ich schrieb darüber jahrelang öffentlich in meinen Büchern. Wäre es im Einklang mit all diesen, wenn ich gegen eine solche Tyrannei nur schweigen würde? Es war für mich eine Frage der Ehre, auf die ich nicht verzichten wollte. Ich musste mit den Mitteln handeln, die mir zur Verfügung standen.

Seit wann leben Sie mit Ihrer Familie in Deutschland?

Etwa seit sechseinhalb Jahren. Meine beiden Söhne studieren hier, Mathematik und Maschinenbau. Seit 50 Jahren bin ich Deutschland verbunden mit Geist und Seele. Vor allem Göttingen liebe ich. Hier habe ich auch promoviert.

Wann war das und zu welchem Thema?

Es war über die Produzentenhaftung im Rahmen des Haftungsrechts im 1983 bei Herrn Prof. Dr. Erwin Deutsch.

Könnten Sie jederzeit mit Ihrer Familie wieder in die Türkei reisen?

Ich traue mich nicht, dorthin zu reisen, solange dieses Regime dort an der Macht ist. Ich würde das Leben, die Sicherheit meiner Familie riskieren. Irgendwann hoffe ich zurückzukommen. Aber noch breitet sich Nebel aus.

Kann es Kompromisse bei Meinungs- und Pressefreiheit geben?

Nein. Wie sollen die Kompromisse denn aussehen: verschweigen, verbiegen, verleugnen? Jeder Kompromiss bei der Gedankenfreiheit führt zu einem Selbstentwürdigungsverlauf, der metaphorisch einem Selbstmordprozess gleichkommt. Denn das Denken und der Gedanke sind etwas höchst Moralisches. Wenn wir es nicht so betrachten, können wir sie gleich der KI überlassen. Die Unantastbarkeit der Würde wird erst durch die Unantastbarkeit der Gedankenfreiheit wirklich. Ohne dies ist kein Schutz der Grundrechte und Freiheiten wirklich möglich.

Wie bewerten Sie die Situation in Deutschland?

Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und materieller Rechtsstaat, nicht nur als Ordnung, sondern eher als ein Programm. Unter ihm gilt das Grundprinzip: In dubio pro libertate – im Zweifel für die Freiheit . Die Rechtsstaatlichkeit ist vor allem für jeden Bürger eher als das Programm zu verstehen, das ununterbrochen ohne Kompromisse zu verwirklichen gilt. Daher ist auch der „Zivile Ungehorsam“ soll als Bürgertugend wie die Feuerwehr in seiner Brust einsatzbereit sein.Die Bundesrepublik ist ein demokratischer und materieller Rechtsstaat, nicht nur als Ordnung, sondern eher als ein Programm. Unter ihm gilt das Grundprinzip: In dubio pro libertate – im Zweifel für die Freiheit. Die Rechtsstaatlichkeit ist für jeden Bürger als das Programm zu verstehen, das es ohne Kompromisse zu verwirklichen gilt.

Fühlen Sie sich sicher in Deutschland?

Ich fühle mich in der Bundesrepublik sicher, wie jeder andere Mitbürger, denn ich sehe kein Zeichen, dass ich in meinen Grundrechten und Freiheiten aus irgendwelchen Gründen benachteiligt werde. Wenn ich hier in meiner Existenz irgendwie doch ungesichert sein würde, würde es für mich den Untergang einer Freiheitsordnung bedeuten, die bisher mit universellen Werten genügend gesichert ist. Wir müssen das Barometer kritisch und engagiert verfolgen und reagieren, bevor es irgendwann zu spät ist.

Deutschland steht im weltweiten Ranking der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen erst an zehnter Stelle, hat sich immerhin um elf Plätze verbessert. Die Türkei liegt auf Platz 158 von 180 bewerteten Staaten. Wie erklären Sie das?

Bedarf es noch einer Erklärung überhaupt?

Sie betätigen sich nicht nur wissenschaftlich, sondern auch künstlerisch. Ihre Bilder waren hier im Heidekreis mehrfach in Ausstellungen zu sehen. Womit beschäftigen Sie sich darüber hinaus?

Ich habe über 50 Bücher geschrieben, in den sechs Jahren hier in Deutschland fast 20 – Rechtsphilosophie, Essays, Gedichte. Demnächst soll wieder ein Gedichtband von mir veröffentlicht werden. „Das Meer wäscht sich mit Sturm“ ist der Titel, den der Herausgeber ihm gegeben hat. Die Literatur- und Kunstzeitschrift „eXperimenta“ will im Juli ein Feature über mich veröffentlichen. Malerei und Dichtung sind für mich ganz andere Dimensionen meines Denkens und Fühlens, um die Welt und den Menschen zu verstehen. Sie fangen dort an, wo meine Wissenschaft und Philosophie nicht weiter kommen können. Ich habe Tausende Bilder gemalt und stelle meine Arbeiten seit Jahren in Städten verschiedenen Länder, auch hier im Heidekreis aus. Im November werde ich an einer Ausstellung in Amsterdam teilnehmen.

Sind Ihre Bücher auf Türkisch erschienen?

Zum allergrößten Teil ja. Das hat vielleicht den Vorteil, dass hier keiner lesen kann, was ich schreibe und ich nicht auffalle (lacht). Bisher sind von mir drei Werke auf Deutsch veröffentlicht: „Denkträume. Rechts-, sozial- und lebensphilosophische Aphorismen“, „Das Wesen des Rechts ist das Widerstandsrecht. Essays und Vorträge“ sowie ein „Die Liebe ist gerecht Gedichte“. Meine Bilder befinden sich auf resimlerimhokcesiz.blogspot.com.

Wie sind Sie eigentlich in den Heidekreis gekommen, zuerst nach Neuenkirchen und dann noch Soltau, wo Sie jetzt wohnen?

Wir kamen hier mit Hilfe einer Freundin aus meiner Zeit in Göttingen, die in Neuenkirchen ein Haus hatte und in Bremen unterrichtete. Meine Söhne wurden hier im Gymnasium sehr freundlich aufgenommen, ermutigt und unterstützt. Wir schulden dem Direktor Herrn Wrigge und seinem Kollegium einen besonderen Dank.

Meinungsäußerung und Berichterstattung werden immer mehr bedroht

Mehr Übergriffe im Umfeld von Wahlen und eine Rekordzahl von Ländern mit katastrophalen Bedingungen für Medienschaffende: Die Lage der Pressefreiheit hat sich im weltweiten Vergleich weiter deutlich verschlechtert. Dies geht aus der Rangliste der Pressefreiheit 2024 von Reporter ohne Grenzen (RSF) hervor. Der Analyse zufolge befanden sich im vergangenen Jahr 36 Länder in der schlechtesten von fünf Wertungskategorien – so viele wie seit mehr als zehn Jahren nicht. Unabhängige journalistische Arbeit sei in diesen Ländern praktisch unmöglich. Deutschland steht mit 83,8 von 100 möglichen Punkten auf Platz 10 von 180 betrachteten Staaten. Das ist ein Aufstieg um 11 gegenüber 2023. Zum achten Mal in Folge liegt Norwegen (91,9) auf Platz 1. Die Türkei (31,6) belegt Platz 158. Betrachtet man die Gesamtpunktzahl, hat sich die Situation in Deutschland aber nur geringfügig verbessert, sagt RSF, und auch nur in der Kategorie Sicherheit. Der Sprung auf Rang 10 sei zudem auch der Tatsache geschuldet, dass sich andere Länder verschlechtert hätten. Besonders vor und nach Abstimmungen sind Journalistinnen und Journalisten weltweit gefährdet. Es komme zu Beschimpfungen, Gewalt und Festnahmen. Pressefeindliche Tendenzen haben in Deutschland zugenommen, konstatiert RSF. Besonders im Internet würden Journalisten diffamiert, manche erhalten Morddrohungen. Seit dem Beginn des Krieges in Gaza beobachtet RSF vermehrt Übergriffe auf Medienschaffende auf Pro-Palästina-Demonstrationen. Zudem verzeichnet die Organisation ein neues Phänomen der Pressefeindlichkeit: Landwirtinnen und Landwirte blockierten in mindestens fünf Fällen mit Traktoren die Auslieferung von Zeitungen in mehreren Bundesländern – „ein klarer Angriff auf das Recht auf Information“.