„Für Erwachsene mit Autismus gibt es eine große Lücke“

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Das Bewusstsein für psychische Erkrankungen wächst im Heidekreis, zugleich gibt es Versorgungslücken, zum Beispiel bei Pflegebedürftigkeit im Alter und für Erwachsene mit Autismus.

Psychische Erkrankungen sind längst kein Randthema mehr – und doch bleibt ihre Versorgung in bestimmten Bereichen lückenhaft. Gerade im ländlichen Raum stoßen Betroffene nicht nur auf lange Wartezeiten, sondern auch auf fehlende Anlaufstellen oder weite Wege zu spezialisierten Angeboten. Wie gravierend diese Lücken sind und welche strukturellen Hürden sich dahinter verbergen, darüber spricht der Leiter des sozialpsychiatrischen Dienstes in Soltau, Daniel Neuefeind.

Wie erleben Sie derzeit die Versorgungssituation im Heidekreis?

Daniel Neuefeind: Es gibt Bereiche, in denen es eine gute Abdeckung gibt. Bei klassischen Angeboten der Eingliederungshilfe wie dem ambulant betreuten Wohnen kann es Wartezeiten geben, sie halten sich aber im Rahmen. Auch bei der psychiatrischen häuslichen Krankenpflege hat sich die Situation verbessert. Es gibt aber andere Bereiche, die im Landkreis überhaupt nicht abgedeckt sind. Bei der Diagnostik von ADHS-Erkrankungen im Erwachsenenalter finden wir hier fast keine Möglichkeiten. Im psychiatrischen Bereich ist es sehr schwierig, Menschen entsprechend anzubinden und die Diagnostik wird nicht überall angeboten, da sie sehr zeitaufwendig ist. Auch für Erwachsene mit Autismus gibt es eine große Lücke, weil es hier eigentlich gar keine Angebote gibt. Im Hinblick auf die Versorgung sind das große Probleme. Wir haben mehrere Klienten, die darunter leiden, weil sie oft weite Fahrten zu Therapien auf sich nehmen müssen und dazu gar nicht richtig in der Lage sind.

Sieht das in den Städten anders aus oder ist das generell ein Problem?

In Großstädten wie Hannover, Hamburg oder Bremen gibt es Zentren an Unikliniken, die Diagnostik betreiben und entsprechende Angebote vorhalten. Die sind jedoch so stark nachgefragt, dass man, wenn Wartelisten geführt werden, frühestens nach anderthalb oder zwei Jahren noch einmal draufschauen kann – manche Zentren nehmen gar keine neuen Klienten mehr auf. Die ländliche Versorgung ist schwierig, in Ballungsgebieten ist die Lage besser. Wir bekommen auch Rückmeldungen, dass Menschen, die eine Traumatherapie suchen, Schwierigkeiten haben, entsprechende Psychotherapeuten mit traumaspezifischen Weiterbildungen zu finden. Auf Internetseiten wird das oft nicht angegeben, sodass die Suche erschwert wird. In den Ballungsräumen unterstützen Beratungsstellen bei der Suche, aber hier auf dem Land fehlt das. Deshalb finden viele unserer Klientinnen und Klienten keinen passenden Therapeuten.

Als Leiter des Sozialpsychiatrischen Dienstes in Soltau steht Daniel Neufeind im Kontakt mit vielen Menschen, die von psychischen Erkrankungen betroffen sind, und weiß um die Lücken im Versorgungsnetz. Foto: sus

Gibt es weitere Versorgungslücken?

Auch die fachärztliche Versorgung ist schwierig. Schaut man auf die Kassensitze, sieht das im Heidekreis erstmal gut aus, aber viele bieten Psychotherapie an und decken nicht die rein psychiatrische Versorgung ab für Menschen, die nur eine medikamentöse Einstellung und regelmäßige Kontrollen brauchen. Dafür gibt es hier lediglich eine Praxis. Vieles wurde über die psychiatrischen Institutsambulanzen der Klinikstandorte in Soltau und Walsrode abgedeckt, die nun zusammengelegt werden. Betroffene müssen jetzt bis nach Walsrode fahren, was für viele, die nicht mobil sind, schwierig ist. Eine weitere Lücke gibt es bei der gerontologischen psychiatrischen Versorgung, für Menschen, die mit psychischen Grunderkrankungen alt werden, somatische Erkrankungen und einen Pflegebedarf entwickeln. Da finden wir keine entsprechend geschulten Pflegedienste und nur wenige Einrichtungen. Es gibt in Schneverdingen eine, die sich auf Demenz spezialisiert hat. Aber abseits der Demenz haben wir Schwierigkeiten. Psychiatrische Wohneinrichtungen sind nicht dafür ausgelegt und das Personal auch nicht dafür ausgebildet, körperliche Pflege vorzunehmen. Andersrum ist es genauso.

Die Pflegeheime sind auf Menschen ohne psychische Erkrankungen eingestellt?

Das ist ein Problem, das uns berichtet wird und zunehmend an Bedeutung gewinnt. Wenn jemand etwa Schizophrenie hat und altersbedingt weitere Erkrankungen hinzukommen, braucht es Fachkenntnisse für beide Bereiche, ein entsprechendes Konzept sowie Wissen über Medikamente und deren Wirkweise im Alter. Das Heidekreis-Klinikum hat Bestrebungen, eine entsprechende Station einzurichten, aber die Vorgaben sind hoch und kaum umsetzbar. Selbst wenn es eine Krankenhausstation gäbe, müssten auch Wohnangebote existieren, in denen eine angemessene Pflege möglich ist. Auch Menschen, die schon in psychiatrischen Wohnformen leben, entwickeln altersbedingt körperliche Erkrankungen. Hier haben wir einen großen Versorgungsbedarf im Heidekreis.

Woran liegt es, dass diese Personengruppen nicht die Hilfen finden, die sie eigentlich brauchen?

Das ist auch eine Folge des demografischen Wandels: Psychiatrische Medikamente haben sich in den vergangenen Jahrzehnten stark verändert. Früher hatten sie massivere Nebenwirkungen, inzwischen sind sie verträglicher. Dadurch leben Betroffene länger und werden alt, was einen neuen Bedarf erzeugt. Bei uns im Landkreis ist das Problem bekannt, doch es ist nichts, was sich schnell lösen lässt. Es ist immer auch eine Finanzierungsfrage, da viele Einrichtungen wirtschaftlich arbeiten müssen. In der gerontopsychiatrischen Versorgung braucht es einen deutlich engeren Betreuungsschlüssel. Man muss auch erst einmal Personal finden. Es ist also eine Gemengelage unterschiedlicher Aspekte.

Wie nehmen Sie das Bewusstsein in der Region für Menschen mit psychischer Erkrankung wahr? Hat sich das verändert?

Wir haben deutlich mehr Anfragen als früher. Das Thema ist vielen Menschen bewusster geworden, aber es gibt nach wie vor Stigmatisierung. Sie ist zwar etwas zurückgegangen, aber noch längst nicht verschwunden. Es dauert immer noch lange, bis Menschen akzeptieren, dass sie eine psychische Erkrankung haben, und sich Hilfe suchen. Wir wünschen uns mehr Akzeptanz. Früher haben sich beispielsweise nur wenige Männer in psychotherapeutische Behandlung begeben. Das hat sich geändert. Bei uns ist der Anteil an Männern und Frauen inzwischen ziemlich ausgeglichen. Es ist sicher ein Unterschied, um welche Erkrankungen es geht. Wir machen außerdem Veranstaltungen wie in Munster, um zu informieren. Je früher man Hilfe holt, desto besser sind die Chancen auf Gesundung und gute Lebensbewältigung.

Wie oft gibt es Info-Veranstaltungen wie zuletzt in Munster?

Wir möchten das in allen größeren Kommunen anbieten. Wir hatten eine ähnliche Veranstaltung in Schneverdingen, das ist allerdings schon etwas her. Jetzt waren wir in Munster. Wir sind gerade dabei, weitere Kommunen zu kontaktieren und Partner zu suchen. Die Veranstaltung ist so gut angekommen, dass wir das Gefühl haben, wir sollten das wirklich überall machen. Mit Schneverdingen sind wir auch wieder im Gespräch, vielleicht zu einem spezifischeren Thema wie Suchterkrankungen. In dem Bereich werden wir sehr häufig angefragt, gerade von Schulen.

Was können Menschen machen, wenn es sehr lange dauert, bis sie einen Therapieplatz finden?

Es gibt gute Online-Unterstützungen, ortsunabhängige Programme oder Apps, die helfen, bis man einen Therapieplatz bekommt. Das ist kein Ersatz für eine Therapie, stabilisiert aber und stärkt die Ressourcen. Zudem existieren erkrankungsspezifische Selbsthilfegruppen, beispielsweise in Walsrode und Soltau. Die Teestube Soltau bietet Gruppen zu unterschiedlichen Themen an. Es lohnt sich, sich dort zu informieren oder auch bei uns im sozialpsychiatrischen Dienst. Die Lebenshilfe Walsrode hat eine Kontaktstelle für Selbsthilfe, die beim Aufbau von Gruppen unterstützt und darüber informiert, welche Gruppen es gibt. Selbsthilfegruppen sind sehr wichtig. Man kann sich austauschen und merkt, dass man mit seinen Problemen nicht allein ist. Manchmal können Betroffene auch berichten, was ihnen weitergeholfen hat.

Wie sorgen Sie dafür, selbst seelisch gesund zu bleiben?

Ich mache dasselbe, was wir Klienten empfehlen. Ich achte auf ein aktives Privatleben, nutze meine Ressourcen und schaffe mir „Tankstellen“. Im Team haben wir eine sehr gute Gesprächskultur, wir sprechen über Fälle, können uns gegenseitig Rat holen und uns entlasten. Außerdem haben wir Supervision. Wir müssen uns immer wieder bewusstmachen, dass wir berufsbedingt viele schwierige Themen hören, die einen verzerrten Blick auf die Gesellschaft geben können. Deshalb achten wir auf eine klare Trennung zwischen Arbeit und Privatleben und nutzen professionelle Hilfe, wenn wir selbst merken, dass wir Unterstützung brauchen. Wir wissen, dass wir nur helfen können, wenn es uns selbst gut geht. Eine gute Teamkultur, ein offener Austausch und professionelle Begleitung sind dafür essenziell.

Susanne Schmidt