„Es gibt kein Leben ohne Leid“

Alle Gefühle gehören zum Leben dazu, bei der positiven Psychologie geht es nicht darum, die negativen auszublenden, sondern seinen Fokus bewusst auf das Gelingende zu richten.

Im Alltag hetzt man leicht von einem Punkt auf der To-Do-Liste zum nächsten. Den Moment bewusst zu genießen, fällt da schwer, Pausen einzulegen auch. Beides könnte aber glücklicher machen, sagt Birgit Koch. Sie ist Psychologin und arbeitet mit positiver Psychologie. Was sich hinter positiver Psychologie verbirgt, was man braucht, um sein Leben als gelingend zu empfinden, und wie zumindest eine kurze Auszeit gelingt, darüber spricht sie im Interview.

Was ist positive Psychologie?

Birgit Koch:  Die positive Psychologie ist eine relativ neue Richtung innerhalb der wissenschaftlichen Psychologie, die sich mit dem gelingenden Leben beschäftigt. Im Gegensatz zur traditionellen Psychologie, die oft auf Defizite fokussiert, stellt die positive Psychologie das Gelingende, Stärken und Ressourcen in den Mittelpunkt. Das eröffnet neue Wahrnehmungsperspektiven und Handlungsmöglichkeiten. Es handelt sich um eine evidenzbasierte wissenschaftliche Ausrichtung, die nichts mit esoterischem oder oberflächlichem Denken zu tun hat. Es geht nicht darum, Dinge zu verdrängen oder egoistisch dem eigenen Glück nachzujagen, sondern bewusst auf positive Aspekte zu achten und dadurch die Wahrnehmung zu erweitern und so Handlungsoptionen zu schaffen. Die positive Psychologie ist also keine „Happyologie“, bei der alles nur schöngeredet wird.

Das ist dann auch der Unterschied zu toxischer Positivität – bei der Negatives ja keinen Platz hat?

Ja, die positive Psychologie unterscheidet sich von toxischer Positivität dadurch, dass sie sich

bewusst mit den Herausforderungen und Schwierigkeiten des Lebens auseinandersetzt, anstatt diese zu verdrängen. Positive Psychologie blendet das Negative nicht aus, das ist der Kernunterschied zu toxischer Positivität. Es gibt kaum ein Leben ohne Leid, ohne Schwierigkeiten, ohne Ängste, all das gehört zum Leben dazu. Es geht um das bewusste Wahrnehmen von Schwierigkeiten und darum, auch dort Handlungsspielräume für sich zu finden, in denen man wirksam sein kann.

Sie sprachen von gelingendem Leben – was braucht es denn, dass ich mein Leben als gelingend empfinde?

Ein gelingendes Leben besteht aus Sicht der positiven Psychologie darin, Sinn zu empfinden und werteorientiert zu handeln.  Positive Psychologie beschäftigt sich auch mit den individuellen Werten einer Person: Aus den Werten lassen sich Ziele und aus den Zielen konkrete Handlungen ableiten. Dies gibt Halt und Orientierung im Alltag. Das Gefühl von Selbstwirksamkeit gehört ebenso zu einem gelingenden Leben dazu. Selbstwirksamkeit bedeutet, zu spüren, dass man in seinem kleinen Umfeld wirksam ist. Das kann zum Beispiel auch die Marmelade sein, die man herstellt und sie dann an seine Kinder, Enkel oder Nachbarn verschenkt. Ein gelingendes Leben bedeutet auch, sich mit sich selbst wohlzufühlen und das Gefühl zu haben: Ich bin hier mit dem, was ich mache, am richtigen Ort – ich weiß, wofür ich etwas mache. Aus Sicht der Positiven Psychologie ist es ein großes Glück, wenn man sich auch an kleinen Dingen freuen kann und diese kindliche Freude und das ehrfürchtige Staunen über die Welt nicht verliert oder wieder aktivieren kann. Das ist in schwierigen Zeiten besonders fordernd und sollte regelmäßig „geübt” werden.

Diese schwierigen Zeiten erleben wir seit Jahren, eine Krise scheint auf die nächste zu folgen. Wie ist es für Kinder und Jugendliche, mit dieser Informationsflut an schlechten Nachrichten, die sie auf Social Media und in den Nachrichten sehen, aufzuwachsen?

Die Krisen lassen sich nicht wegdiskutieren, sie sind real, und die ständige Verfügbarkeit von Online-Nachrichten ermöglicht es, alles in Echtzeit mitzuerleben. Sie einfach zu ignorieren, wäre toxische Positivität oder Verdrängung. Besonders bei Jugendlichen, die sich selbst noch finden müssen, führen soziale Medien auch dazu, dass sie sich zum Beispiel viel mehr vergleichen. Man braucht eigentlich mehrere Methoden, um mit den vielen negativen Nachrichten  umzugehen und nicht in Pessimismus, Zynismus oder Mitgefühlsmüdigkeit zu verfallen. Es geht darum, bewusst dagegen anzugehen und individuelle Handlungskompetenz zu entwickeln. Wir können ja selbst entscheiden, wie wir eine Situation einschätzen und auf sie reagieren. Dabei ist die sogenannte psychische Flexibilität hilfreich.

Was muss man sich darunter vorstellen?

Psychische Flexibilität kann zum Beispiel heißen, zu realisieren, wann es mir gut tut, sich intensiv mit den negativen Nachrichten oder auch Social Media im Allgemeinen zu beschäftigen, und wann es besser ist, eine Pause einzulegen. Letztlich geht es auch darum, die eigene psychomentale Gesundheit aktiv zu schützen und zu fördern.  Dazu gehört zum Beispiel auch ein bewusster Medienkonsum und Stressbewältigungskompetenz. Für Jugendliche kann das Herausforderung sein. Aber es gibt immer mehr Schulen, die versuchen, die Stressresilienz von Kindern und Jugendlichen aktiv zu fördern. Es gibt dazu zum Beispiel auch Präventionsprogramme von Krankenkassen zum Thema Stressbewältigung in Schulen.

Prävention in der Schule ist das eine – was können Eltern tun?

Es ist wichtig authentisch zu sein, sich auch mal verletzlich zu zeigen und als Eltern dazu zu stehen, nicht auf alles eine Antwort zu haben. Eltern sollten anerkennen, dass die heutigen Zeiten auch für Jugendliche nicht einfach sind. Eltern können die Selbstwirksamkeit ihrer Kinder fördern, indem sie ihnen Möglichkeiten aufzeigen, in ihrem Umfeld etwas zu bewirken. Es ist auch wichtig, Techniken zu Stressbewältigung zu üben. Denn unser Gehirn hat die Tendenz, negative Informationen verstärkt zu beachten. Dieser aus evolutionsbiologischer Sicht eigentlich sinnvolle Schutzvorgang kann bei zu häufiger Aktivierung aber zu gesundheitsschädlichem chronischen Stresserleben führen.

Wie kann positive Psychologie hier helfen?

Hier kann die positive Psychologie helfen, indem man beispielsweise den Fokus auf positives Erleben lenkt, sich bewusste Auszeiten nimmt oder entsprechende Methoden zur Stärkung der Resilienz anwendet. Eltern können ihre Kinder auch auf dem Weg zur Medienkompetenz begleiten.  Es geht nicht primär darum, Verbote auszusprechen, sondern Alternativen anzubieten und zum Beispiel nicht-digitale Aktivitäten gemeinsam zu genießen. Entscheidend ist, dass die Heranwachsenden die Kompetenz erwerben, in verschiedenen Situationen jeweils für sich gesundheitsförderliche Entscheidungen zu treffen.

Das erfordert etwas an Übung, kann ich mir vorstellen.

Genau, das ist auch wie ein mentales Training. Es ist eine bewusste Zuwendung zum Positiven. Gerade, wenn die Welt so verrückt ist, sollte  man  aktiv und bewusst etwas für seine  psychische und physische Gesundheit tun. Sonst gerät manschnell in einen Abwärtsstrudel. Man kann auch mal sagen, ich mache mir Sorgen wegen des Klimawandels und engagiere mich daher vor Ort, aber jetzt in diesem Moment will ich gerne mit meinem Hund spielen und das genießen. Also sich ganz bewusst Zeit für positives Erleben nehmen und sich sagen: „Es ist okay, sich mal nicht mit allen Problemen der Welt zu beschäftigen, weil man sowieso nicht alle gleichzeitig lösen kann. Erst recht nicht im Alleingang.”

Abschalten kann aber schwierig sein, wenn sich das schlechte Gewissen meldet, dass man doch eigentlich viel mehr tun sollte.

Es kann sich manchmal so anfühlen, als ob es in der heutigen Welt nicht erlaubt ist, sich gut zu fühlen. Die Stimmung ist oft gedrückt oder belastet, und das ist kein Wunder. Es gab und gibt viele negative Nachrichten, wie die Corona-Pandemie, Kriege, den Klimawandel und  steigende Preise.

Es ist wichtig, sich trotzdem zu erlauben, dass es einem gut geht, denn nur, wenn es uns gut geht, können wir auch anderen wirksam helfen. Eltern können ihren Kindern Stärke, Mut und Menschlichkeit in Krisenzeiten vermitteln und sowohl  Empathie für andere als auch Selbstmitgefühl fördern. Selbstmitgefühl ist ein Konzept, das in der positiven Psychologie hochgeschätzt wird und es uns erlaubt, schwierige Zeiten als solche anzuerkennen und zu sagen: „Das war und ist gerade schwer für dich!” Das hat nicht mit Jammern zu tun, sondern mit einem bewussten Anerkennen und Auseinandersetzen von Belastung.

Wie kann man denn üben, mehr auf das Positive zu achten?

Glück und Wohlbefinden sind kein Zustand, sondern ein Prozess, für den wir uns aktiv einsetzen müssen. Es ist wichtig zu erkennen, dass wir positive Erfahrungen bewusst in unser Leben einladen  können und sollten. Das geht zum Beispiel mit einem Mini-Urlaub, den kann man auch gut mit Kindern machen. Man erstellt zum Beispiel eine Liste mit 20 Dingen, die einem Freude bereiten, wie ein heißes Bad, ein leckerer Kakao, ein spannender Krimi, ein Restaurantbesuch oder Schwimmen. Die Aktivitäten sollten mindestens 15 Minuten dauern. Man wählt jede Woche eine Sache aus und plant bewusst Zeit dafür ein. Diese Verabredung mit sich selbst kann man auch den Kindern beibringen, indem man sie ermutigt, herauszufinden, was sie diese Woche nur für sich selbst tun möchten. Dies kann mithilfe von Karten geschehen, auf denen sie ihre eigenen Wünsche festhalten können. Indem man diese Praxis übt, schafft man kleine Alltagsauszeiten, auch wenn man eigentlich nicht im Urlaub ist. Mein persönlicher Mini-Urlaub ist oft ein Pleasure-Walk, bei dem ich bewusst einen anderen Weg gehe, eine Haltestelle früher oder später aussteige und mich ganz bewusst auf meine Sinne konzentriere. Diese Mini-Urlaube plant man – Selbstwirksamkeit – freut sich darauf – Vorfreude, man führt sie durch – aktuelles Erleben – und im Anschluss erinnert man sich daran – positive Erinnerung. So sammeln wir im Laufe der Zeit einen Schatz an positiven Erlebnissen.

Interview: Janika Schönbach

Janika Schönbach