Mit Fuß- und Handfesseln bis in den Gerichtssaal

Ein Fluchtversuch im Amtsgericht hat jetzt dazu geführt, dass die Sicherheitsmaßnahmen im Gebäude verschärft wurden. Ein 19-Jähriger hatte nach einem Haftprüfungstermin Anfang April den Moment genutzt, in dem ihm nach der Verhandlung wieder Handfesseln angelegt werden sollten, und war aus dem Gerichtssaal gesprintet.

„Er kam nicht weiter als in den Flur“, erklärte Carsten Springer, Direktor der Soltauer Justizeinrichtung, beim Pressegespräch zur Jahresbilanz. Die Wachtmeister hätten die Situation im Griff gehabt, den jungen Mann zu Boden gebracht und entsprechend gesichert. Dabei sei kein Schlagstock oder Ähnliches im Einsatz gewesen, niemand sei verletzt worden.

Dennoch hat dieser Fluchtversuch Folgen. Werde jemand aus der Haftzelle im Keller des Gebäudes vorgeführt, müsse dieser grundsätzlich auf dem Weg in den Sitzungssaal Hand- und Fußfesseln tragen – und auf dem Rückweg. Im Gerichtssaal entscheidet der Richter, ob dem Angeklagten die Fesseln abgenommen werden. Das sei einzelfallabhängig, so Springer. „Wir haben nach dem Vorfall die Richter noch einmal sensibilisiert.“

Der 19-Jährige sitzt in Hameln in Untersuchungshaft. Ihm wird schwerer Raub zur Last gelegt. Er soll unter Einsatz eines Messers eine Tankstelle überfallen haben. Richter Dirk Ladage, der auch stellvertretender Direktor des Amtsgerichts ist, erläuterte, dass er angeordnet habe, den jungen Mann weiterhin in Untersuchungshaft zu belassen. Damit sei dieser wohl nicht einverstanden gewesen. Der Fluchtversuch werde zusätzlich zu dem eigentlichen Verfahren für den 19-Jährigen ein Strafverfahren nach sich ziehen.

Mit acht Richtern sind zurzeit alle Planstellen im Amtsgericht Soltau besetzt, insgesamt sind 50 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dort tätig. Wie bereits in den vergangenen Jahren seien die Zivilverfahren – wie im bundesweiten Trend – weiter zurückgegangen.

Dazu gehörten Verfahren um Mietstreitigkeiten, 106 gab es 2022, 2021 waren es noch 113, aber auch zu Verkehrsunfällen (62/67). Zudem beschäftigten weniger Nachbarschaftsstreitigkeiten die Richter. Fünf Verfahren gab es, 2021 waren es sechs. Genau könne man nicht sagen, warum die Zivilverfahren rückläufig seien. Möglicherweise liege das an der Spezialisierung der Anwälte, sodass es mehr Vergleiche gebe, oder auch an vorgeschalteten Mediationsverfahren.

Ein Rückgang verzeichnete das Gericht bei Scheidungen: 132 Paare trafen sich dafür vor Gericht, 2021 waren des 166. Auf nahezu gleichem Niveau blieben die güterrechtlichen Verfahren (13/12). Um Unterhalt wurde in 24 Fällen gestritten (37). Einen Sprung nach oben gab es bei Terminen zu Sorge- und Umgangsrecht. 157 Fälle wurden verhandelt, 2021 waren es 126. Möglicherweise gebe es eine höhere Sensibilisierung bei einer möglichen Kindeswohlgefährdung, man schaue auch im Jugendamt genauer und sensibler hin.

Bei Strafsachen herrscht wieder Normalität

Sind die Zivilverfahren im Amtsgericht Soltau weiter rückläufig, so gibt es bei den Strafsachen einen leichten Anstieg. „2022 hatten wir gefühlt wieder Normalität“, erläutert Dirk Ladage, Richter und stellvertretender Direktor des Amtsgerichts Soltau, beim Bilanzgespräch.

Er geht allerdings davon aus, dass 2023 noch einmal „aufkommensstärker“ werde. Das schließt er auch aus der polizeilichen Kriminalstatistik, die kürzlich vorgestellt wurde und nach der Coronazeit eine deutliche Steigerung zeigte: „Der Trend dürfte auch bei der Justiz ankommen.“

Ein Plus gab es im vergangenen Jahr bei den Strafbefehlsanträgen der Strafrichter: 453 Verfahren gab es in dem Bereich, 2021 waren es 421. Die allgemeinen Strafsachen blieben nahezu gleich mit 180 Verfahren (2021: 183).

Das Schöffengericht war im vergangenen Jahr 23-mal gefragt, 2021 waren es 19 Verhandlungen. Dort spiele jetzt auch die Verschärfung des Sexualstrafrechts eine größere Rolle. Statt mindestens drei Monate sei der Strafrahmen bei Kinderpornografie auf ein Jahr angehoben worden. Außerdem befasste sich das Schöffengericht mit mehr Vergewaltigungsvorwürfen als bislang.

Zwei kuriose Fälle hatte zudem das Gericht 2022 zu verhandeln. In beiden ging es um Handynutzung am Steuer eines Autos. Bei einer Verhandlung schilderte der Angeklagte, dass er statt eines Handys eine Hundebürste in der Hand gehabt haben wolle. Die hätte er benötigt, um seinen Hund mit Striegeleinheiten zu beruhigen. Im zweiten Fall habe ein Angeklagter behauptet, eine E-Zigarette und kein Handy in der Hand gehabt zu haben. Beides sei als nicht schlüssig zurückgewiesen worden und beide Angeklagten hätten ein Bußgeld zahlen müssen.

Nahezu gleich blieben laut Ladage die Jugendstrafverfahren. Die Jugendrichter verhandelten bei 78 Terminen (2021: 71). Auch da sei in diesem Jahr mit einem deutlichen Anstieg zu rechnen, das zeigten bereits die ersten Monate mit inzwischen 50 Aktenzeichen. Das Jugendschöffengericht kam im vergangenen Jahr zu 28 Fällen zusammen, 2021 waren es 27.

Kein Messgerät für Autobahn-Einsatz

Weiter niedrig blieb die Zahl der Verhandlungen im Bereich der Ordnungswidrigkeiten. Das habe damit zu tun, dass der Landkreis Heidekreis über kein rechtlich sicheres Messgerät für den Einsatz auf Autobahnen verfüge. 539 Fälle wurden verhandelt, 584 waren es im Jahr zuvor. Als alle Blitzer im Heidekreis noch im Einsatz waren, lagen die Verfahren pro Jahr bei fast 2000.

Etabliert haben sich im Gericht mittlerweile die Videoverhandlungen. Sie würden regelmäßig im Zivil- und Familienrecht eingesetzt, erklärte Amtsgerichtsdirektor und Richter Carsten Springer. Möglicherweise soll mittelfristig auch ein weiterer Sitzungssaal technisch besser ausgestattet werden. 360-Grad-Kameras könnten dann an den Wänden installiert werden und müssten nicht mehr auf den Richterpulten stehen.

KI ist kein Ersatz für richterliches Kerngeschäft

Künstliche Intelligenz (KI) im eigentlichen Sinne werde bislang am Amtsgericht noch nicht angewandt. Allerdings gebe es bereits Programme, die beispielsweise bei einfachen Scheidungsurteilen den Versorgungsausgleich ausrechneten. „Aber solange es um Menschen und ihre Glaubwürdigkeit und Glaubhaftigkeit geht, wird KI im Gerichtssaal keine Rolle spielen“, waren sich Springer und Ladage einig. „Das ist richterliches Kerngeschäft.“

Robin Döpke neuer Geschäftsleiter

Das Amtsgericht Soltau ist eines von sechs Amtsgerichten des Landgerichtsbezirks Lüneburg. Außer den Rechtsgebieten des Zivil-, Familien- und Strafrechts nimmt das Amtsgericht auch Aufgaben der freiwilligen Gerichtsbarkeit wahr wie Grundbuchsachen, Nachlassangelegenheiten, Betreuungen.

Einen Wechsel gab es bei der Geschäftsleitung. Den Posten hat nun Robin Döpke inne. Der Diplom-Rechtspfleger ist dafür verantwortlich, „dass der Laden läuft“, wie er sagt. Er sei für Personalverwendung und -bedarf zuständig, für den Haushalt, bauliche Angelegenheiten und Gebäudesicherheit.

Amtsgerichtsdirektor Carsten Springer (rechts) und sein Stellvertreter Dirk Ladage (links) haben mit Robin Döpke einen neuen Geschäftsleiter an ihrer Seite. Foto: at