"Wir waren wie Steinzeitmenschen“

Kurt Palis mit der Kopie des Motivs des „Bohnenmahls“, zu dem sich Immanuel Kant (sitzend, 2. von links) mit Zeitgenossen zu philosophischen Gesprächen traf. Palis pflegt diese Tradition als Mitglied des „Vereins der Freunde Kants und Königsbergs“.

Am heutigen 23. Mai vor 75 Jahren trat das Grundgesetz in Kraft, es ist der „Geburtstag“ der Bundesrepublik Deutschland. Der 1937 in Engelshöhe/Kreis Wehlau (Ostpreußen) geborene Kurt Palis gehört zu der Generation, die noch eigene Erinnerungen an diese Zeit haben, wenn auch nur als Heranwachsender. Im Gespräch mit der Böhme-Zeitung erinnert sich der 86-Jährige an Grundgesetz-Erfahrungen aus drei unterschiedlichen Lebensperspektiven: als elfjähriges Flüchtlingskind, als Jurastudent und als Mitglied des Deutschen Bundestages. Als Bildmotiv zum Gespräch schlägt Palis statt eines Fotos mit einem Exemplar des Grundgesetzes die Kopie eines historischen Holzschnitts vor, die ihm seine Ehefrau Roswitha geschenkt hat. Es zeigt die sogenannte Bohnenrunde, die der berühmte Philosoph und Aufklärer Immanuel Kant einst im ostpreußischen Königsberg zum Ende des 18. Jahrhunderts um sich versammelte.

Kant saß gern in guter Gesellschaft und führte philosophische und weltanschauliche Gespräche mit der Runde. 1805, ein Jahr nach seinem Tod, beschlossen seine Freunde, die „philosophischen Tischgesellschaften“ an jedem 22. April fortzusetzen. Anfang der 2000er-Jahre wurde der „Verein der Freunde Kants und Königsbergs“ gegründet, der diese Tradition wieder pflegen will. Alljährlich im April treffen sich Mitglieder der Gesellschaft zum Bohnenmahl. In diesem Jahr fand es mit etwa 400 Gästen in Berlin statt. Mit am Tisch: Kurt Palis. Nach einer Verbindung zum zuvor geführten Gespräch über 75 Jahre Grundgesetz musste Palis nicht lange suchen: Viele Gedanken, die Kant in seinen Werken wie dem berühmten „Traktat zum ewigen Frieden“ niederschrieb, fänden sich im Grundgesetz wieder, sagt er. Und: Hauptredner der Bohnenrunde-Veranstaltung war der Mann an der Spitze jener Instanz, die über die Einhaltung der Normen wacht: Prof. Dr. Stephan Harbarth, der Präsident des Bundesverfassungsgerichts.

Herr Palis, als das Grundgesetz in der Nacht vom 23. auf den 24. Mai 1949 in Kraft trat, waren Sie 11 Jahre alt. Haben Sie eine Erinnerung an diesen Tag, der als Geburtsstunde der Bundesrepublik gilt?

Kurt Palis: Nicht an den Tag, keineswegs etwa an die Geschichtsträchtigkeit des Ereignisses. Auch an eine besondere Anteilnahme der Erwachsenen an der Geburt ihrer Verfassung kann ich mich nicht erinnern. Ich bin mir aber sicher, dass ich es wahrgenommen habe. Mein Vater hatte die Lübecker Freie Presse abonniert, eine SPD-nahe Zeitung, aber es wurde nicht als so bedeutsam empfunden. Die Verfassung wurde nicht mit Jubel begrüßt. Es hat aber auch keinen Widerstand gegeben. Andere Dinge waren nur wichtiger. Die Deutschen waren Hitler hinterhergelaufen, haben ihn aber nicht vermisst. Der tägliche Kampf ums Überleben beschäftigte alle. Jeden Tag musste man sich kümmern. Schule, Nahrung, Wohnraum. Nichts war selbstverständlich. Wir waren wie Steinzeitmenschen.

Was hat die Menschen in jenen Tagen denn mehr beschäftigt?

Die im Jahr davor erfolgte Währungsreform bedeutete den Menschen in den ersten Nachkriegsjahren eindeutig mehr. Mit der DM waren erstmals wieder Waren zu haben. Und es gab 20 Mark „Kopfgeld" für jeden. Ich bekam mein lang ersehntes Taschenmesser. Leider war die Klinge aus Blech und hielt nicht ganz lange. Wir haben für unsere Fußballspiele immer Trillerpfeifen aus Weidenholz geschnitzt.

Es gab aber durchaus Vorbehalte bei der Politik, bevor die 70 Mitglieder des Parlamentarischen Rates am 1. September 1948 mit den Beratungen zum Grundgesetz begannen, das knapp zehn Monate später in Kraft trat. Mussten die Deutschen zum Glück gezwungen werden?

Man hatte Angst, eine Staatsgründung im Westen werde die Spaltung zwischen West und Ost weiter vertiefen. Denn Deutschland war im Sommer 1948 nach der Einführung der D-Mark bereits geteilt. Im Osten errichteten die Sowjets die SED-Diktatur. Die Hoffnung auf eine baldige Wiedervereinigung mit der Sowjetischen Besatzungszone war noch viel zu lebendig. Erst nach erheblichem Druck der Alliierten, insbesondere durch den Militärgouverneur der amerikanischen Besatzungszone, General Lucius D. Clay, gaben die elf Länderchefs ihren Widerstand auf.

Sie waren einer von 14 Millionen Vertriebenen aus den Ostgebieten, geflüchtet vor der heranrückenden Roten Armee am Ende des 2. Weltkriegs, von Ostpreußen nach Gudow in Schleswig-Holstein. Dort kamen Sie mit Ihrer Mutter und zwei Geschwistern auf einem Bauernhof unter, in einer sieben Quadratmeter großen, nicht beheizbaren Mägdekammer. Mit dem vom Krieg gezeichneten Vater kam die Familie 1946 wieder zusammen. Sie hätten Mitmenschlichkeit erfahren, haben Sie einmal in einem Vortrag gesagt, aber auch das Gefühl gehabt, nicht immer willkommen gewesen zu sein. Beeinflusst diese Erfahrung den Blick auf Flüchtlinge, die heute in Deutschland Zuflucht suchen?

Diejenigen, die Flucht und Vertreibung überlebt hatten, wurden von ihren Landsleuten nicht immer gut aufgenommen, sondern oft ausgegrenzt. Glücklicherweise gab es aber auch gute Erfahrungen, Zeichen echter Mitmenschlichkeit. Man muss bedenken: Gudow hatte 2000 Einwohner, nach dem Krieg waren es 6000. Wir Vertriebene waren in der Überzahl. Ich weiß, wie schrecklich es ist, wenn Menschen aus der Heimat fliehen müssen, so wie wir aus Ostpreußen. Wir haben kein Schloss verlassen, sondern lebten in einfachsten Verhältnissen. Mein Vater war dort Kutscher auf einem Gut.

Wann haben Sie das Grundgesetz zum ersten Mal bewusst wahrgenommen?

Einige Jahre später als Gymnasiast in Ratzeburg. Unser Dorflehrer hatte meinen Vater überzeugt, mich dorthin zu schicken. Ein Privileg. Als einziges von mittlerweile sechs Geschwistern bekam ich diese Möglichkeit, die meinen Lebensweg entscheidend beeinflusst hat. In der Politik wurde damals um die deutsche Wiederbewaffnung gerungen. Ein Klassenkamerad und ich waren die Einzigen, die sich politisch interessierten. Die Lehrer waren belastet. Im Jurastudium habe ich mich selbstverständlich viel mit dem Grundgesetz und der Verfassung beschäftigt.

Waren Sie für die Wiederbewaffnung?

Damals war ich dagegen. In mir steckte die Erfahrung von Flucht, Vertreibung und Krieg. Später als Bundestagsabgeordneter und Mitglied des Verteidigungsausschusses während des Balkankrieges habe ich gelernt, dass der klare Standpunkt nicht immer weiterhilft. Das war auch ein Lernprozess.

Welches war nach Ihrer Einschätzung in 75 Jahren die größte Bewährungsprobe für das Grundgesetz?

Innenpolitisch: die „Spiegel-Affäre“ 1962. An deren Ende stand eine gerettete und gefestigte Pressefreiheit. Dann 1968 die Studentenunruhen, denen das Land die Bereinigung mancher autoritärer Vergangenheitsstrukturen verdankt, und schließlich Willy Brandts neue Ostpolitik, ohne die die spätere  Wiedervereinigung Deutschlands kaum denkbar geworden wäre. Da bin ich als Hamburger zum Springer-Hochhaus gegangen und habe zugeschaut, wie Studenten die Auslieferung der Bild-Zeitung blockierten. Bei den 68er-Demos habe ich auch mitgemacht, aber nicht nur protestiert. Ich habe auch mit den Polizisten geredet. Man muss jeden respektieren, der seine Arbeit macht, und darf die Menschen nicht beschimpfen.

Die ersten 19 Artikel des Grundgesetzes beschreiben die Grundrechte. Welches ist für Sie das wichtigste?

Für mich rangiert Artikel 1 ganz vorne. „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Alle folgenden Grundrechte erscheinen mir wie die Konkretisierung dieses Grundsatzes. Daraus resultiert alles Weitere. Das resultiert aus Erfahrungen der Nazi-Zeit.

Vor 15 Jahren hielten Sie am 23. Mai 2009 anlässlich des 60. Grundgesetz-Jahrestags in der Soltauer Waldmühle einen Vortrag. Er stand unter der Überschrift „Deutschland in guter Verfassung“. Sehen Sie das heute noch so? Ist Deutschland in guter Verfassung?

Ja, entgegen einer allgemein verbreiteten Behauptung: Deutschland ist in einer guten Verfassung, immer noch. Wann waren wir besser dran? Nur Geschichtsunkenntnis oder Geschichtsvergessenheit kann zu einer gegenteiligen Bewertung führen.

Wo droht dem Grundgesetz und der Demokratie heute Gefahr?

Grundgesetz und Demokratie sehe ich nicht als bedroht an. Ich bin nicht der Meinung, dass wir in einer Verfassungskrise sind. Wir sind in einer sozialen Krise. Die große Mehrheit ist froh, in diesem Staat mit dieser Verfassung zu leben. Die Weimarer Zeiten sind weit weg. Eher stimmen mich die teilweise Verachtung von Verfassung und politischer Lebensform traurig. Woher diese Undankbarkeit? Ich bin zuversichtlich, dass die Vorschriften zur Abwehr von Angriffen ausreichend sind. Eine Gefährdung, wie sie die Weimarer Verfassung erfahren hat, wird es nicht geben. Deutschland hat die Verfassung lieben und schätzen gelernt, ihre Bedeutung erkannt. Wir sind eine verfassungstreue Gesellschaft geworden.

Das sehen nicht alle so …

Ich hoffe, dass die Rechthaberei von heute bei einigen bald ein Ende hat. Helmut Schmidt hat einmal gesagt: „Wer keine Kompromisse machen kann, ist für die Demokratie nicht zu gebrauchen.“ Das Aufkommen und Erstarken verfassungskritischer oder auch -feindlicher Parteien besorgt Sie nicht?

Das Aufkommen und Erstarken verfassungskritischer oder auch -feindlicher Parteien besorgt Sie nicht?

Das Auftreten von Gruppen, die überzeugt sind, im Besitz der Wahrheit zu sein, ist ein elendes Phänomen und immer ärgerlich. Es gibt keine unumstößliche Wahrheit, sondern nur vorläufige, sagt der Philosoph Karl Popper. „Erkenntnisse sind vorläufig und können falsifiziert werden.“

Das Grundgesetz war am Anfang eine Art Übergangslösung. In seiner 75-jährigen Geschichte ist es schon oft geändert, ergänzt worden. Sie haben einmal gesagt, dass Sie in Ihrer Zeit als Bundestagsabgeordneter an der Fortschreibung „ein wenig mitwirken“ durften. Wie sieht Ihr „persönlicher“ Beitrag aus?

1994 gab es eine kleine Verfassungsreform, die im Gefolge der Wiedervereinigung erforderlich war, Anträge zur Aufnahme plebiszitärer Elemente und eine Volksabstimmung über das Grundgesetz wurden abgelehnt. Schutz der Umwelt und der Tierschutz wurden als Staatsziele aufgenommen, außerdem Bestimmungen zum großen Lauschangriff.

Wo könnte oder müsste nach Ihrer Ansicht wieder etwas geändert, nachgebessert werden?

Meine sehr persönliche Meinung geht dahin, dass wir uns Gedanken machen sollten über eine Präzisierung des Artikels 4, über die Religionsfreiheit. Die Freiheit des Glaubens sehe ich mit Recht geschützt, die geopolitische Problematik der Weltreligionen sollte künftig genauer analysiert werden.

„75 Jahre Grundgesetz sollte man feiern“, sagt Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil. Ist der heutige Tag für Sie ein Festtag?

Ja. Ich meine, wir haben allen Grund, uns über die Friedenszeit von 75 Jahren zu freuen und dafür unserem Grundgesetz Dank zu erweisen.

Wie werden Sie den Tag feiern?

Am Vorabend bekomme ich Besuch von Freunden. Dann werden wir wieder über Gott und die Welt diskutieren. Natürlich auch über das Grundgesetz.

Flucht aus Ostpreußen und Mitglied des Bundestags

Der 1937 in Engelshöhe/Kreis Wehlau (Ostpreußen) geborene Kurt Palis besuchte nach der Flucht vor der heranrückenden Roten Armee nach Gudow (Schleswig-Holstein) zunächst die Volksschule und machte 1957 das Abitur am Gymnasium Ratzeburg. Er studierte anschließend an der Universität Hamburg die Fächer Pädagogik und Rechtswissenschaft. Von 1969 bis 1993 arbeitete er in verschiedenen Funktionen in der Versicherungsbranche. Seit 1965 ist Palis Mitglied der SPD. Am 12. Juli 1993 zog er als Nachrücker für den verstorbenen SPD-Abgeordneten Günther Tietjen in den Bundestag ein, dem er bis zum Ende der 14. Legislaturperiode 2002 angehörte. 1998 gewann er den Bundestagswahlkreis Soltau-Fallingbostel – Rotenburg II mit den meisten Erststimmen. Darüber hinaus gehörte er unter anderem dem Kreistag Soltau-Fallingbostel an und war Ratsmitglied in Soltau und Neuenkirchen.