Weil die Würde unantastbar ist

Nicht antastbar, aber berührbar zu sein, macht einen wesentlichen Teil der Würde des Menschen aus.

Auf Nachfrage ist der erste Artikel des Grundgesetzes wohl jener, der den meisten durch den Kopf schießt, wenn sie zum Inhalt des Jubiläumswerkes befragt werden. Die Würde des Menschen, die zu jedem Zeitpunkt, in jeder Lebenssituation, frei von Herkunft, Glauben oder vergangenen Taten unantastbar ist. Die unveräußerlich garantierte Menschenwürde gilt nicht nur als Grundrecht an sich, sie bildet gleichsam das Fundament aller Grundrechte. Alle folgenden 18 Artikel fungieren als Ausfächerung des ersten Artikels. Nicht nur in Deutschland, in allen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union bildet die Menschenwürde die unabdingbare Wertegrundlage - eine zivilisatorische Errungenschaft. Die Achtung der Menschenwürde ist obligatorisch für den Beitritt in die EU. Doch was beinhaltet der „Würde“-Begriff? Wie wird er definiert? Wo beginnt der Schutzbereich? Wo endet er?

Wohl an kaum einem anderen Ort wird dem 1. Artikel unabhängig von Alter, Ethnie oder persönlicher Vergangenheit so Genüge getan wie in Hospizhäusern. Gesellschaftlich verdrängt, rückt die bewusste Auseinandersetzung mit dem Tod bisweilen ins Abseits. Dass Sterbenskranken, denen mitunter nur wenige Wochen Lebenszeit verbleiben, im Hospiz einen mit hohem Kostenaufwand verbundenen Platz finden, der über eine rein ärztliche Fürsorge hinausgeht, ist in einer funktionalen Welt bemerkenswert. „Dem Leben nicht mehr Tage, sondern dem Tag mehr Leben geben“, ist das Credo der Begründerin der Hospizbewegung aus den 80er-Jahren, Cicely Saunders, auf das auch das Hospizhaus Heidekreis verweist. Auch und gerade in der letzten Lebensphase, wo manch Außenstehender nach dem „Wozu überhaupt noch?“ fragen mag. Dörthe Gallus, Leiterin des Hospizhauses und Hubertus Greiner, Kurator des Hospizhauses, erörtern im Interview, warum und wie Hospizphilosophie und Artikel 1 des Grundgesetzes Hand in Hand gehen.

Wie definieren Sie die Würde Ihrer Patientinnen und Patienten im letzten Lebensabschnitt?

Dörthe Gallus: Wir nennen unsere Patienten ganz bewusst Gäste. Im Hospiz wird niemand auf seine Erkrankung reduziert. Den Menschen, mit allem was er ist, wahr- und ernstzunehmen – das hat für mich ganz entscheidend mit Würde zu tun. Vor allem aber auch Teilhabe: Dass jemand gewaschen wird, wenn er sich schmutzig fühlt, es aber genauso ablehnen kann, weil ihm nicht danach ist. Würde ist, in dem Moment den Menschen so zu nehmen wie er ist. Dabei spielt es keine Rolle, ob er ein Leben geführt hat, das für mich nicht erstrebens- oder lebenswert ist. Auch das ist eben eine Form des Gesehenwerdens. Wenn ich in einer Abhängigkeitssituation wäre, wäre ich um jeden wohlwollenden Menschen dankbar, der mich ernst nimmt und in meinem Sinne mit mir entscheidet. Es ist eine Illusion zu glauben, dass wir alle bis an unser Lebensende unabhängig sind. Wir verurteilen nicht, sondern konzentrieren uns darauf, wie wir Wünschen nachgehen oder helfen können. Zustände zu nehmen, wie sie sind, ohne sie verändern zu wollen. Ein verwahrloster, einsamer Kranker mit Charakterzügen, die mir völlig zuwider sind, verdient nicht mehr oder weniger Respekt als ein Wohlhabender mit angenehmer Persönlichkeit. Würde haben beide Menschen verdient, weil sie Mensch sind. Das ist unsere Grundherangehensweise.

Sehen Sie Überschneidungen in Ihrer täglichen Arbeit mit dem Anspruch, den der erste Artikel des Grundgesetzes erhebt?

Gallus: Absolut. Wir sind der Überzeugung, dass Hilfe bei ungewollten Schmerzen ein entscheidendes Moment ist, um Würde zu verleihen. Jemanden keinem Leid auszusetzen, weil ich die Möglichkeiten habe, es zu lindern, so denn der Mensch es möchte. Ebenfalls ist es unsere Aufgabe, genau hinzusehen: Manchmal wollen Betroffene zwar, können Hilfe jedoch aus verschiedensten Gründen nur schlecht annehmen.

Hubertus Greiner: Das hospizliche Denken erfüllt den Gedanken der unantastbaren Menschenwürde komplett. Hospiz ist eng mit den Möglichkeiten der Palliativmedizin verbunden. Das ist ein wesentlicher Punkt bis hin zu psychischer Entlastung. Diese Kombination ermöglicht es, die Würde bis zum Schluss zu erhalten.

Bis zu welchem Punkt ist das möglich?

Gallus: Es gibt teilweise Situationen, in denen man sich fragt, ob man das ethisch diskutieren will, also was medizinisch möglich und was gewollt ist. Medizin kann viel und nahezu Leben um jeden Preis ermöglichen. Wie hoch dieser ist und ob man ihn zu zahlen bereit ist, ist dann die zu stellende Frage. Eine solche Entscheidung liegt beim betroffenen Gast. Wir haben Gäste, denen es auf zwei oder drei mehr Tage im Leben nicht ankommt, solange es ihnen gut geht. Gleichzeitig begegnen wir wiederum Menschen bei uns im Haus, die um jeden zusätzlichen Tag betteln.

Gibt es auch Umstände, die Menschen dazu bewegen, aus freien Stücken auf eine Palliativbehandlung zu verzichten?

Greiner: Es gibt Fälle, in denen nach Aufklärung auf palliative Hilfe verzichtet wird. Menschen, die beispielsweise trotz Atemnot bis zum letzten Atemzug aktiv das eigene Leben erleben wollen. Auch auf die Gefahr, dass man den Zustand der Luftnot durchleben muss. Dem gegenüber stehen Gäste, die einfach in Ruhe und ohne Not auf ein Medikament, das ihr Leiden lindert und sie ermüden lässt, zurückgreifen möchten.

Gallus: Vor vielen Monaten war eine schwerstkranke Dame bei uns zu Gast, die es – zum Leidwesen ihrer Angehörigen – kaum abwarten konnte, den Zustand des Sterbens zu erleben. Mit hochgradigen Symptomen war das für sie ein abenteuerlicher Weg. Aufgrund ihres Glaubens war sie überzeugt, dass sie Gott begegnet.

Greiner: Wenn wir das abstrahieren, ist das die größte Form von erhaltender Würde. Sie hat so gedacht, so geglaubt und ist so gestorben, und wir haben ihr das nicht genommen.

Was entgegnen Sie solchen Gästen, die konkret nach Ihrer Meinung oder Ihrem eigenen Glauben fragen?

Gallus: Bezugnehmend darauf ist es ein wesentlicher Punkt von Würde, denjenigen in seiner Realität zu lassen, aber nicht anzulügen. Mitunter ist das ein sehr schmaler Grat. Wenn uns jemand fragt, ob er stirbt, ist die Antwort: „ja“. Wenn uns jemand fragt, ob er heute stirbt, ist die Antwort: „Ich weiß es nicht.“ Wenn uns aber ein Gast fragt, ob im Tod jemand wartet, um ihn abzuholen, und man mit „das ist Quatsch“ antworten würde, nähme man ihm alles, woran er glaubt. In dem Moment belassen wir denjenigen in seiner Hoffnung. Selbst wenn ich es für totalen Blödsinn hielte.

Greiner: Deshalb haben wir im Team eine Mitarbeiterin mit seelsorgerischer Ausbildung, die sich um solche Fragen auslotend kümmert. Wenn sie im Gesprächsrahmen den Glauben im Gast findet, bestärkt sie ihn darin, diesen auch zu erhalten. Deswegen ist es wichtig, die Seelsorge als Teil unserer Arbeit im Hospiz zu sehen.

Was macht der tägliche Kontakt mit dem Tod mit dem eigenen Würde-Begriff?

Gallus: Man sieht Menschen in anderen Zusammenhängen. Mir fällt da eine junge Frau in den Mittzwanzigern ein. Gezeichnet von Alkohol und Drogen war sie ein Schatten ihrer selbst, abgemagert, mit Multiorganversagen. Für uns ging es in ihrem Fall nicht im Ansatz um die Frage, was sie getan hat, sondern darum, wo der Punkt lag, an dem man ihr nicht geholfen hat. Was mit diesem Kind passiert sein musste, dass es zu so einem Erwachsenen wurde. Demgemäß haben wir versucht, es ihr hier so schönzumachen, wie sie es in ihrem Leben vielleicht noch nie gehabt hat.

Lässt sich ein würdevolles Lebensende ohne die Möglichkeit, selbstbestimmt den Todeszeitpunkt setzen zu können, überhaupt bewerkstelligen? Befürworter der Sterbehilfe sehen darin einen Weg, qualvolles Leiden, das die Würde antastet, zu minimieren.

Gallus: Das Johanniter-Hospiz unterstützt den Wunsch nach dem assistierten Suizid durch ein bereitgestelltes Medikament ganz deutlich nicht. Für uns hat es genau in diesem Moment mit Würde zu tun, den Menschen im Sterben zu begleiten und ihn nicht sich selbst zu überlassen. Dennoch unterstützen wir den Wunsch, symptombefreit und frei von Last zu sein. Bei unaushaltbaren Schmerzen, Übelkeit oder Ängsten sind wir an einem Punkt, Hilfestellungen zu gewährleisten. Konkret handelt es sich um Medikamente wie zum Beispiel Propofol, die wie eine kleine Narkose wirken. Wenn gewünscht, verabreichen wir es zu bestimmten Zeiten oder auch so, dass der schlafende Zustand durchgängig aufrechterhalten wird. Eine palliative Sedierung bedeutet die maximale Reduktion der Symptomlast unter der Nebenwirkung, dass man schlafend nicht mehr ansprechbar ist und nicht mehr essen oder trinken kann. Sie selbst führt aber nicht zum Tod. Wenn allerdings jemand in dieser Form bewusst Essen und Trinken ablehnt, hat das natürlich irgendwann eine tödliche Konsequenz.

Greiner: Niemand, auch der Sterbende nicht, weiß, welche ungeahnten Momente noch passieren können. Es ist nicht unüblich, dass wir stellenweise noch ein überraschendes plötzliches Aufleben erleben, ehe es zur Neige geht. Wenn es um einen assistierten Suizid geht, dürfen wir nicht im Ansatz in diese Situation hineinschlittern. Deshalb gibt es bei uns die klare Abgrenzung gegen Sterbehilfe, aber wir entsprechen dem Wunsch einer Entlastung, die zum Einschlafen führt.

Doch wie sieht der Hospiz-Alltag in der Praxis aus? Ein Gast des Hospizhauses Heidekreis erzählt von seiner Wahrnehmung unangetasteter Menschenwürde im Angesicht der letzten Lebensphase.

Vom Darmkrebs gezeichnet liegt Ursula Pehling in leicht aufgerichteter Position im Bett ihres Hospizzimmers in der Bad Fallingbosteler Rehaklinik „Der Weg an diesen Ort“, erzählt ihr Mann, Hans-Heinrich Pehling, „war von ihrer Krankheit vorgegeben. Dem müssen wir uns fügen.“

Die insgesamt vierte Operation samt Chemotherapie im vergangenen Jahr schwächte die 71-Jährige massiv. An eine Pflege in den eigenen vier Wänden war nicht mehr zu denken. „Die Kraft war einfach nicht mehr da, bevor wir hierherkamen“, entsinnt sich Hans-Heinrich Pehling. Zu sprechen zehrt an der Energie seiner Frau, zwischendurch schließt sie die Augen. An die schönen Zeiten denken. Viel gestohlen habe ihr die Krankheit nicht, aber so manch heiteres Jahr hätte es doch noch sein können.

„Mit ihrer Ankunft hat sich Frau Pehling nur erbrochen. Sie war völlig erschöpft, weinte vor Übelkeit, Erschöpfung und Schmerz“, erinnert sich Hospizleiterin, Dörthe Gallus. Ideal auf ihre Medikation eingestellt ist Ursula Pehling heute stabil und schmerzfrei. Gespräche mit ihrem Mann sind wie die Teilhabe am Patientenalltag in spürbar entschleunigter Atmosphäre mithin wieder möglich. Sie ist eine von acht betreuten Gästen auf der Station.

Auf die Frage, ob sie ihr Leben seit der Krankheit als würdevoll empfindet, antwortet die Verdenerin bestimmt. „Eigentlich schon, jeder Tag ist anders. Man denkt nicht mehr weit in die Zukunft.“ Mit Abgabe großer Anteile ihrer Selbstständigkeit an das Hospiz sehe sie ihre Würde nicht als gefährdet an. „Ich kann nicht nur zu Hause sitzen und warten, bis es vorbei ist. Das geht einfach nicht.“ Dass ihre Pflege in ihrem eigenen Tempo abgesprochen und ganz im Sinne seiner Frau erfolgt, ist auch für Hans-Heinrich Pehling ein Segen.

Über den Tag schwelgen beide gemeinsam in Vergangenem: „Für uns war es immer wichtig, zusammen Urlaub zu machen und füreinander da zu sein. Es ist eine Routine geworden, die schönen Erinnerungen alle noch mal wieder zurückzuholen.“ 24 Jahre ihrer 55-jährigen Bindung verlebten die Verheirateten Teile des Jahres gemeinsam auf der Müritz, ihrer zweiten Heimat. In strapaziösen Zeiten der Krankheit ihre ganz persönliche Reha. Aus dem Ritual der Chemotherapie-Termine machte das Paar einen Reisetag. Immer donnerstags. 365 Kilometer Entfernung bis zur reinen Erholung auf dem eigenen Schiff.

Geschichten, bei denen das Hospiz hellhörig wird. Ob sie sich noch mal einen letzten Müritzbesuch als großen Traum wünschen würde, fragt Gallus die 71-Jährige. „Für einen Tag ist die Belastung vielleicht zu groß. Das wäre dann schon traurig, wenn es nicht mehr weitergeht“, entgegnet Ursula Pehling vorsichtig. Faktisch sind solche Wünsche möglich. Der Gestaltung der verbleibenden Zeit gebührt im Hospiz eine immense Bedeutung. Was möglich gemacht werden kann, soll möglich gemacht werden.

Einer passionierten Motorradfahrerin konnte so zum Beispiel trotzdem kritischem Zustand eine letzte Ausfahrt gewehrt werden. An einem Sonntagnachmittag wurde sie in den Beiwagen eines Motorrads gesetzt. „Da wurde es etwas aufregend und sie brauchte erst mal ein großes Glas Wasser. Am Ortsausgang standen dann 40 Biker, die sie auf ihrer Fahrt um Dorfmark begleitet haben“, erinnert sich Hospizkurator Hubertus Greiner gerührt. Erfahrungen wie diese zeigen auf, wie respektvoll die Einrichtung mit ihren Gästen umgeht. Den „Würde“-Begriff definiert dabei jeder Patient für sich selbst: ob schmerzfrei, nicht in Einsamkeit, nach Möglichkeit selbstbestimmt zu bleiben oder gar eigene Hobbys möglichst lange wahrzunehmen.

Ursula Pehling hat indes keine Angst vor dem, was in geraumer Zukunft auf sie zukommen mag. „Wir können es selbst für dieses eine Jahr eben nicht sagen“, schließt sie. Es ist die tatsächliche Bedeutung des Leitspruchs „Carpe Diem“, also den Tag zu nutzen und das Bestmögliche aus dem Augenblick zu machen, dem sich viele Menschen im Trubel des Alltags oftmals mäßig erfolgreich verschreiben, die einem in diesem Moment im Hospiz eindrücklich bewusst wird.