Jetzt ist Julia Klöckner am Zug

Bispingens Ortsvorsteher Stephan Müller im Gespräch mit Bahnprojekt-Leiter Matthias Hudaff. Anfang September stellte die Bahn in der Alten Reithalle ihre Pläne für die Neubaustrecke Hamburg–Hannover vor. Allerdings nicht als Beteiligungsformat, sondern als reine Informationsveranstaltung. Die fehlende förmliche Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern an dem Projekt kritisiert Müller aktuell deutlich. Foto: at

Unterschiedliche Perspektiven, unterschiedliche Bewertungen: Während Pro-Bahn-Sprecher Malte Diehl die dem Bundestag vorliegenden Unterlagen zum Neubau der Trasse Hamburg Hannover insgesamt positiv beurteilt (BZ vom Dienstag: „Milliardenprojekt ICE: Bau könnte bis 2063 dauern“ und „Der schnelle Nahverkehr bleibt wohl nur Vision“), sieht Stephan Müller, Ortsvorsteher Bispingens, darin „eine unfassbare Dreistigkeit“.

Besonders kritisiert Müller die Nichtbeteiligung der Öffentlichkeit durch die Bahn sowie das Hinnehmen dieses Umstands durch das Eisenbahnbundesamt (EBA) und das Verkehrsministerium. „Das ist ein Skandal.“

Bereits am Montag hatte sich Müller, der auch in der Bürgerinitiative Unsynn engagiert ist, an Bundestagspräsidentin Julia Klöckner gewandt, um die fehlende Bürgerbeteiligung bei der ICE-Neubaustrecke öffentlich anzusprechen und politischen Druck zu erzeugen. Er fordert in dem Schreiben, die parlamentarische Befassung zu stoppen, bis ein formgerechtes Verfahren nachgeholt worden ist.

Bislang, so Müller, sei weder die Gemeinde noch er selbst offiziell zur Stellungnahme aufgefordert worden – obwohl dies nach dem Verwaltungsverfahrensgesetz üblich und notwendig wäre. Er weist auf ein grundsätzliches Problem hin: Die Deutsche Bahn Infra-Go sei zwar als Planungsunternehmen aufgetreten, doch es sei nicht erkennbar, welche Behörde tatsächlich verantwortlich ist.

Zwar habe er an einer Informationsveranstaltung der Bahn teilgenommen, doch diese ersetze kein formelles Beteiligungsverfahren, betont er. Von einer zuständigen Behörde sei kein einziger Termin zur Abgabe kommunaler Stellungnahmen gesetzt worden. Auch Verbände und die Öffentlichkeit hätten keine Möglichkeit, ihre Einwände innerhalb einer Frist einzubringen.

Zudem kritisiert der Ortsvorsteher, dass es bislang keine Raumverträglichkeitsprüfung gegeben habe. Ein solcher Schritt gehört üblicherweise zu den ersten Prüfbausteinen großer Infrastrukturprojekte und soll klären, ob die geplante Trassenführung mit den regionalen Gegebenheiten vereinbar ist. Ohne diese Prüfung sei auch das „Handbuch für eine gute Bürgerbeteiligung“ des Bundes kaum anwendbar.

Müller warnt die Bundestagspräsidentin vor einer politisch brisanten Gefahr: Das Parlament könnte auf Basis unvollständiger Unterlagen und fehlender Stellungnahmen zu einer Entscheidung gedrängt werden, die später kaum korrigierbar sei. Er fordert daher, die Unterlagen des Verkehrsministeriums zu vervollständigen, bevor der Bundestag über die milliardenschwere Strecke berät. Gleichzeitig bittet er zu prüfen, ob eine Befassung des Bundestages ohne zuvor abgeschlossene Raumverträglichkeitsprüfung rechtmäßig wäre.

„Neubau dauert sieben Jahre“

Pro-Bahn-Sprecher Diehl betrachtet die Planung dagegen weitgehend als abgeschlossen. Sie weise die Vorteile der Vorzugstrasse für Güter, Fern- und Nahverkehr nach. Bei der Frage nach dem Zeitrahmen zeigt er sich zögerlich: 2050, mit Puffer bis 2063, könnten die ersten Züge rollen, so die Unterlagen von EBA und Verkehrsministerium. „Das ist völlig absurd“, meint er – die vorliegenden Informationen lassen eher eine Fertigstellung Ende der 2030er-Jahre erwarten. Der Zeitraum 2050 bis 2060 gelte für die Sanierung der Bestandsstrecken. Dass der Neubau schneller realisierbar sei, begründet er mit Erfahrungen von der Strecke Köln–Frankfurt: Dort habe der Bau sieben Jahre gedauert. Eine Verzögerung sei nur vorstellbar, wenn die parlamentarische Befassung torpediert werde.

Da in den Unterlagen klar wird, dass der Bund keine Kernforderungen der Region finanziert, sieht Diehl das Land in der Pflicht. Dieses hat bislang den Neubau und insbesondere die Pläne für Bahnhöfe in Soltau und Bergen strikt abgelehnt. „Die Kosten dafür sind ein Bruchteil der eigentlichen Baukosten. Das ist Sache des Landes“, findet Diehl. Die Erwartungen seien hoch, schließlich investiere Niedersachsen im Landesvergleich am wenigsten in den ÖPNV. Das nächstschlechtere Bundesland zahle bereits doppelt so viel.

Der Bedarf für einen Regionalexpress auf der ICE-Neubaustrecke sei nachgewiesen: 100.000 Reisende pro Jahr könnten zusteigen – und dadurch könnten auch die Züge auf der Bestandsstrecke schneller fahren. „Das wäre eine erhebliche Verbesserung. Das Land muss aufspringen.“

Heidekreis bleibt an Kernforderungen dran

Optimistisch ist auch Erster Kreisrat Oliver Schulze. Er sieht die Positionierung des Eisenbahnbundesamtes nach den Prüfungen der Kernforderungen als nicht überraschend an. Die Behörde urteile nach Recht und Gesetz.

Der Landkreis Heidekreis hatte seine ablehnende Haltung gegenüber den Neubauplänen zwar nicht aufgegeben, aber bereits Forderungen an Bahn und Bund formuliert, um bei Genehmigung gewappnet zu sein. Dazu gehören verlässlicher Regionalverkehr auf der Heidebahn mit Haltepunkt am neuen Heidekreis-Klinikum sowie die Realisierung des „Bahnhofs Soltauer Heide“ auf der ICE-Strecke. Außerdem gehe es um Schutz der Anlieger vor Lärm und Erschütterungen sowie die gemeinsame Betrachtung des Lärmpegels der Bahn und der A7. „Die Umsetzung der Kernforderungen ist für uns essenziell. Dafür werden wir mit großer Entschlossenheit kämpfen“, hatte Landrat Jens Grote Anfang Oktober erklärt.

Schulze sieht weiterhin Chancen für die Kernforderungen in der parlamentarischen Beratung. Im 25-jährigen Planungs- und Umsetzungsprozess sei man zuversichtlich, dass die Region ausreichend Gelegenheit erhalte, ihre Belange deutlich zu machen. Zudem lasse der Kosten-Nutzen-Index von 1,5 noch finanzielle Spielräume, insbesondere für Lärmschutz und weitere Forderungen. Zum Regionalhalt auf der möglichen ICE Trasse erklärte Schulze: „Wenn der Bundestag das Vorhaben beschließt, muss auch das Land seine Position überdenken.“

Anja TrappeKommentieren