Individuelle Termine für Klassenarbeiten

Vorankommen im eigenen Lerntempo und Schulfrust vermeiden sind die Leitgedanken hinter der keinesfalls neuen Reformidee, Klassenarbeiten zeitversetzt schreiben zu lassen.

Erfahrungen der Coronazeit haben verschiedene Lebensbereiche nachhaltig verändert, auch das Schulleben. Hybrider Unterricht, digitale Kommunikation zwischen Lehrern, Schülerschaft und Eltern, passgenaue Konzepte zur Bewältigung konkreter Herausforderungen – all das war in den Jahren der Pandemie im besonderen Maße gefordert. Dabei habe sich gezeigt, dass „Freiräume bereits an vielen Schulen sehr verantwortungsbewusst im Sinne der Schülerinnen und Schüler genutzt werden“, heißt es in einer Handreichung des Kultusministeriums. Die wird regelmäßig aktualisiert und soll Freiräume aufzeigen sowie Schulleitungen und Lehrkräfte ermutigen, sie „zur Gestaltung ihrer eigenen Schule zu nutzen“. Zusätzlich zu aufgeführten Möglichkeiten, verschiedene Lernmethoden eigenverantwortlich in den Unterricht zu implementieren, wird darauf verwiesen, dass nach Genehmigung durch die Schulbehörde auch weitergehende Modelle erprobt werden können – etwa „das zeitversetzte Schreiben schriftlicher Arbeiten“. Damit steht ein Prinzip zur Disposition, das für den Schulunterricht bislang ebenso selbstverständlich ist, wie es vor Corona die Präsenzkultur im Arbeitsleben war: Alle schreiben am selben Tag dieselbe Arbeit.

Entscheidung nach Schulfach

Manche Kinder, die aus der Grundschule in die Sekundarstufe I kommen, machen schon im ersten Jahr die Erfahrung, sich abgehängt zu fühlen. Nicht, weil sie dümmer oder weniger fleißig sind. Oft benötigen sie nur etwas mehr Zeit. Iris Wagner, Leiterin der Bispinger Grund- und Oberschule, griff den Gedanken jüngst im Schulausschuss der Gemeinde auf und gab bekannt, das zeitversetzte Schreiben von Klassenarbeiten im 5. Jahrgang erproben zu wollen.

Im Gymnasium Soltau gibt es ähnliche Überlegungen, bestätigt Direktor Volker Wrigge. „Die Fachkonferenzen thematisieren sowohl die Möglichkeit der Reduktion wie auch das zeitversetzte Schreiben von Klausuren und Klassenarbeiten jeweils in eigener Zuständigkeit.“ Schulfächern sei dafür „größtmöglicher Freiraum“ eingeräumt. „Es wäre ja denkbar, dass die Entscheidungen nach Beratung und Abwägung im Fach Mathematik ganz anders ausfallen als im Fach Kunst – um es an nur einem Beispiel zu verdeutlichen.“

Realschulen in Munster und Soltau uneins

Auch bei der Realschule Munster wird über neue Unterrichtsmethoden nachgedacht. Man prüfe aktuell, „verschiedene Maßnahmen im Rahmen des Freiräumeprozesses zum zweiten Schulhalbjahr genehmigen zu lassen“, teilt stellvertretender Schulleiter Fabian Honnef auf Nachfrage mit. „Hier wird auch über das Thema zeitversetzte Klausuren diskutiert.“ Die finale Entscheidung, ob man dieses innovative Konzept ausprobieren möchte, sei aber noch nicht gefallen. Sollte es dazu kommen, so zunächst in einem begrenzten Rahmen in zwei Erprobungsklassen der Jahrgänge 7 und 8, „vermutlich in den Fächern Mathematik und Englisch“. Ob im weiteren Prozess noch andere Fächer und Jahrgänge in die Erprobung einbezogen werden könnten, sei noch ungeklärt.

Reservierter zeigt sich sein Soltauer Kollege Sven Sievert „Klassenarbeiten werden bei uns zur gleichen Zeit unter den gleichen Bedingungen gemeinsam geschrieben“, stellt der Leiter der Oberschule Soltau klar. Innovationen an Nachbarschulen werde man gleichwohl „sehr genau verfolgen“. Auch die KGS Schneverdingen plant derzeit keinen Antrag für die Erprobung zeitversetzter Klausuren.

Forderungen nach individueller Terminierung von Klassenarbeiten sind nicht neu und kamen in der Vergangenheit nicht selten aus Niedersachsen. Der renommierte Bildungswissenschaftler Manfred Bönsch (1935-2022) lehrte an der Leibniz-Universität Hannover und warb unter Schlagworten wie „Heterogenität verlangt Differenzierung“ oder „Schluss mit dem Gleichschritt“ immer wieder für binnendifferenzierten Unterricht, der sich am Individuum orientiert. „Wieso dürfen Kinder nicht schneller oder langsamer lernen?“, fragte er rhetorisch. „Würde endlich der Binsenweisheit entsprochen, dass jedes Kind am besten in seinem eigenen Tempo lernt, ließe sich viel Schulfrust vermeiden.“