„Zeit des Hangens und Bangens“
Gemeinsam mit der Historikerin Barbara Meier hat Renate Gerstel zumindest einen Teil der originalen Unterlagen der Familie Lennhoff/Feilmann gelesen. Nachfahre Steve Sasso hat die Papiere per Post nach Soltau geschickt. Sie sollen zunächst zur Digitalisierung und dann in der Gedenkstätte Bergen-Belsen eingelagert werden. Foto: at
Vieles meint man bereits zu wissen über das Schicksal der einzigen jüdischen Familie, die am 10. November 1938 noch in Soltau lebte, bei dem Pogrom Heim und Geschäft verlor und um ihr Leben bangte. Wie man ihnen entgegenschrie „Juda verrecke“, wie man Laden und Wohnung stürmte und die Bettfedern wie Schneeflocken aus den Fenstern rieselten, ist bekannt. Auch, dass Sally Lennhoff und sein Schwiegersohn Harry Feilmann an dem Tag in sogenannte Schutzhaft genommen wurden. Dass die Lennhoff-Töchter, Paula Feilmann und Selma Lennhoff, die Nacht im Gefängnis verbrachten, ist allerdings eine neue Erkenntnis aus Unterlagen eines Entschädigungsverfahrens. Auch sie wurden im Rathaus festgesetzt, vom Mob aus SA-Verbänden und Bürgern getrennt. Ob tatsächlich zu ihrem Schutz, wie behauptet, ist zu bezweifeln.
In Vorbereitung der Verlegung von sieben Stolpersteinen für die Familie vor dem ehemaligen Wohn- und Geschäftshaus in der Marktstraße 8 kamen weitere Details ans Licht. Besonders weil Renate Gerstel und Historikerin Barbara Meyer von der Gruppe „Soltau zeigt Geschichte“ nach Jahren des Bemühens um ein angemessenes Gedenken schließlich Kontakt zu den Nachfahren der Familie in den USA aufnehmen konnten. Steve Sasso, der Enkel von Harry Feilmann und Sohn von Ursula Sasso, ist seither in die Vorbereitungen des Gedenkens eingebunden. Gemeinsam mit seiner Frau wird er am 6. November nach Soltau kommen. Sein Bruder Philip Sasso steht im E-Mail-Verteiler. Der dritte Bruder, Eric Harry, verstarb im Januar 2023. Die Schwester Jenifer war bereits 1980 gestorben, ein einschneidendes Erlebnis für Mutter und Geschwister, wie Steve Sasso im Interview mit der Böhme-Zeitung („Der Geschichte nicht den Rücken kehren“ in BZ vom 18. Oktober) erzählte.
Steve Sasso war es auch, der ein Paket schickte: fünf gelbe Hefter, prall gefüllt mit Briefen und Akten von 1938 bis in die 1960er-Jahre. Die Originale aus den ersten Jahren zeichnen auf eng beschriebenem hauchdünnem Pergamentpapier die Hoffnung auf ein Entkommen aus dem nationalsozialistischen Deutschland nach. Auf vergilbtem Papier zeigen sie aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg das verzweifelte Bemühen, das beim Pogrom Zerstörte, Gestohlene und Verlorene zurückzuerhalten und für das erlittene Unrecht entschädigt zu werden.
„Es kommt jetzt für uns eine Zeit des Hangens und Bangens. Hoffentlich gehen auch wir wieder einer besseren Zukunft entgegen“ Aus Brief von Sally und Ida Lennhoff
Zwischen diesen Papieren liegen die hoffnungsvollen Briefe eines kleinen Mädchens. Neun Jahre war Ursula Feilmann alt, als sie in der Marktstraße dem wütenden Mob auf dem Heimweg von der Schule gegenüberstand. Ende 1938, da war sie zehn, wurde die Familie getrennt: Ursula wurde aus Sicherheitsgründen allein nach Holland geschickt. Erhalten ist ihre Post an Vater Harry, der als Erster in die USA geflohen war, um von dort aus die Familie nachzuholen – was bekanntlich nur teilweise gelang.
Ursula schrieb aus Driebergen und Scheveningen, wo sie mit anderen jüdischen Kindern zunächst in Heimen lebte, und später aus Amsterdam. Dort war sie von der jüdischen Familie Morpurgo aufgenommen worden, zu der die etwas jüngere Tochter Hetty zählte. „Sie war ein unbefangenes Kind“, sagt Renate Gerstel nach der Lektüre der Briefe. Fein säuberlich schreibt Ursula an „Vatili“, „Vatichen“, „Pappichen“ oder „Vatiken“ und grüßt als „Uschipuschi“ – etwa am 30. April 1939. Sie erzählt in runder Kinderhandschrift vom Schulalltag und dem Leben in der Ersatzfamilie, davon, dass sie langsam ihr Deutsch verlernt und sich daher Fehler in die Briefe einschleichen. „Sie haben sie vor der bedrohlichen Situation geschützt“, folgert Gerstel. Die Briefe verraten nichts von der Angst und Sorge der Eltern und Großeltern. Doch die Bedrohung wuchs. 1939 konnten Ursula und ihre Mutter Paula mit dem Schiff in die USA fliehen. Sally Lennhoff und seine Frau Ida, die nach den Übergriffen in Soltau nach Bremen gezogen waren, blieben zurück. Drei Adressen aus Bremen sind bekannt, die letzten nach Zwangsumzügen in sogenannte Judenhäuser. Zwei Telegramme sind erhalten, in denen das Ehepaar Harry Feilmann flehentlich bittet, die Passage über Kuba zu organisieren: „Betreibt eiligst ohne Zeitverlust Cubawanderung.“
Briefe dokumentieren Ängste und Hoffnungen
In gemeinsam verfassten Briefen, Sally schrieb mit Schreibmaschine, Ida in steiler Sütterlinschrift, haben die Eheleute ihr Leben, ihre Ängste und Hoffnungen formuliert: „Es kommt jetzt für uns eine Zeit des Hangens und Bangens. Hoffentlich gehen auch wir wieder einer besseren Zukunft entgegen“, heißt es an einer Stelle. Und wenn er könnte, so Sally Lennhoff, würde er seinen 70. Geburtstag bei „Euch Lieben feiern“. In einem weiteren Brief wird klar: Dazu kam es nicht. Am 24. Juli 1942 wurde das Ehepaar von Bremen in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Sally Lennhoff starb dort im November 1943 im Alter von 72 Jahren. Ida überlebte, kehrte zunächst nach Soltau zurück und wohnte wieder im ehemaligen Haus in der Marktstraße. Im September 1947 verließ sie Deutschland für immer und zog nach Milwaukee zu ihren Töchtern Paula und Selma sowie Enkelin Ursula. Ihr Schwiegersohn Harry Feilmann war kurz zuvor gestorben. Ab Juli 1953 erhielt Ida nach jahrelangem Kampf über einen US-Anwalt eine geringe Entschädigung.
In den Unterlagen findet sich auch eine Befragung des Amtsgerichts Soltau aus dem Jahr 1961: Nachbarn wurden zum Verbleib von Gold, Silber und Schmuck befragt, die beim Po-grom verschwunden waren. Im Grunde aber, so ist den Aussagen zu entnehmen, konnte oder wollte sich niemand genau erinnern. Einig war man sich nur darin, dass die Familie Lennhoff/Feilmann bis zum Pogrom ein gutbürgerliches Leben geführt hatte – mit Herrenzimmer und lederbezogenen Sesseln. Viele Erkenntnisse aus den Briefen hat die Gruppe um Meyer und Gerstel festgehalten. Teile der Sütterlin-Schrift wurden bereits von Pastor i.R. Gottfried Berndt transkribiert. Die Unterlagen sollen digitalisiert und die Originale in der Gedenkstätte Bergen-Belsen archiviert werden. Dort, so ist es vereinbart, könne man jederzeit auf die Dokumente oder ihre digitalen Kopien zugreifen, damit das Schicksal der jüdischen Familien Lennhoff und Feilmann nicht vergessen wird.
Gerstel recherchiert derweil weiter akribisch im Internet. Viele Dokumente sind inzwischen digital verfügbar, selbst entfernte Verwandte von Harry Feilmann konnte sie ausfindig machen. „Keiner hat überlebt“, sagt sie. Sie hat auch die Deportationslisten gefunden, die exakt dokumentieren, wann Sally und Ida Lennhoff vom Güterbahnhof Bremen über Hannover nach Theresienstadt deportiert wurden. 800 Menschen waren es allein auf diesem einen Transport.