„Sobald Neonazis ungestört agieren, verfestigt sich ihre Szene“

Seit 30 Jahren steht Wilfried Manneke gegen Rechtsextremismus ein. Fotos: Netzwerk Südheide gegen Rechtsextremismus.

Wilfried Manneke ist Theologe und eine der prägenden Figuren im Kampf gegen Rechtsextremismus in der Heideregion. Ehemals Gemeindepfarrer in Unterlüß ist er zudem Gründungsmitglied des „Netzwerk Südheide gegen Rechtsextremismus“ und Vorsitzender der Initiative „Kirche für Demokratie – gegen Rechtsextremismus“ Niedersachsen. Für sein Engagement erhielt er 2018 den Paul-Spiegel-Preis für Zivilcourage des Zentralrats der Juden in Deutschland. Im Rahmen eines Vortrags in Bad Fallingbostel sprach die BZ mit dem Autor („Guter Hirte, Braune Wölfe“) über die Unvereinbarkeit zwischen Christentum und Rechtsextremismus und besorgniserregende Tendenzen innerhalb der Gesellschaft.

Gibt es ein persönliches Schlüsselerlebnis, das Sie besonders für das Thema Rechtsextremismus sensibilisiert hat?

Wilfried Manneke: Vor einiger Zeit wurde ich von einer Pastorin gefragt, ob es ein biblisches Zitat gibt, das mein Engagement gegen Rechtsextremismus zusammenfassen würde. Da musste ich erst einmal überlegen. Dann fiel mir ein Satz ein, der sogar zweimal in der Bibel vorkommt: „Tu, was dir vor die Hand kommt.“ Was würden Sie tun, wenn nur acht Kilometer von Ihrem Haus entfernt Neonazis ein leerstehendes Landhotel besetzen und es zu einem Schulungszentrum ausbauen wollen? Oder wenn sich nur 13 Kilometer entfernt ein Landwirt findet, der seinen Hof regelmäßig für große Neonazi-Treffen zur Verfügung stellt? Und was, wenn in der Nachbargemeinde zwei Skinheads einen Obdachlosen erschlagen, nur weil er sagte: „Hört auf mit eurem Nazi-Scheiß“? In solchen Situationen kann man doch gar nicht anders, als diesem „Tu, was dir vor die Hand kommt“ zu folgen. Also stellten wir uns den Rechtsextremen in den Weg, initiierten eine Gegenbewegung und gründeten am Ende das Netzwerk Südheide gegen Rechtsextremismus. Wir haben unser Thema nicht gesucht, sondern es hat sich aus der Situation ergeben.

Bevor Sie in die Südheide kamen, waren Sie in Südafrika als Pfarrer aktiv. Können Sie darlegen, wie diese Zeit Ihre Sicht auf Rassismus und Ausgrenzung geprägt hat?

Insgesamt war ich 13 Jahre als Auslandspastor der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in Südafrika tätig, noch zur Zeit der Apartheid. Dort habe ich hautnah miterlebt, wie es ist, wenn Menschen nur aufgrund ihrer Hautfarbe ausgegrenzt werden. In Südafrika gab es Bürger erster, zweiter und dritter Klasse. Die erste Klasse hatte alle Privilegien, die dritte das Nachsehen. Man kann sich vorstellen, welche Verletzungen das verursacht hat. Diese Erfahrungen haben mich besonders sensibel gemacht. Sensibel für Themen wie Rassismus, Ausgrenzung und die Verletzung der Menschenwürde. Dort habe ich eine deutsch- und eine englischsprachige Gemeinde betreut. Die englischsprachige Gemeinde setzte sich aus elf Nationen zusammen. Eigentlich hätte es solche multirassischen Gemeinden offiziell gar nicht geben dürfen, doch man hat es stillschweigend erduldet. Für mich persönlich hatte es jedoch zur Folge, dass ich alle drei Monate eine neue Arbeitserlaubnis beantragen musste und unter Beobachtung der Sicherheitspolizei stand.

Wie ging es nach Ihrer Rückkehr aus Südafrika im Jahr 1995 weiter?

Nach meiner Rückkehr trat ich die Stelle in Unterlüß im Kirchenkreis Celle an. Kurz zuvor hatte ich die erste freie Wahl in Südafrika miterlebt. Nelson Mandela wurde zum Präsidenten gewählt. Die menschenverachtende Apartheid Südafrikas war damit offiziell beendet. An meinem neuen Wohnort in der Südheide erlebte ich, dass gerade diese menschenfeindliche Politik der Rassentrennung verherrlicht wurde. Zu meinem Erschrecken stellte ich fest, dass es hier mehrere rechtsextreme Gruppen gab. Allein im Umkreis von nur 50 Kilometern existierten vier Neonazi-Kameradschaften, in Celle, in Munster und zwei in Schneverdingen. Der Gipfel war das Neonazi-Schulungszentrum in Hetendorf bei Hermannsburg, nur 20 Kilometer von Unterlüß entfernt. Das Zentrum hatte 300 Betten und war ein regelrechter Hotspot der extremen Rechten. Dort fanden politische Schulungen, Pfingstlager und sogar Wehrsportübungen statt. Betrieben wurde es von Jürgen Rieger, einem bekannten Rechtsanwalt und damaligen Bundesvize der NPD.

Hetendorf hatte damals medial großes Aufsehen erregt. Wie haben Sie und andere sich damals dagegen organisiert?

Der erste organisierte Widerstand formierte sich in den 90er-Jahren. Unser Protest gegen Hetendorf 13 nahm rasant zu, bald fanden regelmäßig Demonstrationen und Mahnwachen statt. 1998 hat das Land Niedersachsen dieses Neonazi-Zentrum schließlich wegen Verfassungswidrigkeit geschlossen. Allerdings war 1996 schon etwas ganz Schlimmes passiert: Neonazis aus Hetendorf hatten Jugendliche aus Unterlüß in die rechte Szene gezogen. Über zehn Jungs, im Alter von 14 Jahren, waren dabei, viele hatte ich kurz zuvor konfirmiert. Sie trugen Bomberjacken, Springerstiefel, kahl geschorene Köpfe — und machten kein Geheimnis aus ihrer neuen Gesinnung. Ihre Anfeindungen und Provokationen richteten sich insbesondere gegen Spätaussiedler, die in Unterlüß einen Bevölkerungsanteil von rund 15 Prozent ausmachen.

Welche Maßnahmen haben Sie ergriffen, als Sie merkten, dass Jugendliche vor Ort in die rechte Szene abglitten?

Gemeinsam mit der Schulleiterin und anderen Verantwortlichen gründeten wir einen runden Tisch. Wir setzten uns mit Kommunalvertretern, Eltern und der Polizei zusammen. Daraus entstand eine Initiative, in der wir verschiedene Arbeitsgruppen ins Leben riefen. Eine Gruppe nahm Kontakt zu den ortsansässigen Jugendlichen auf, die bereits in die rechte Szene eingestiegen waren, eine andere sprach mit den Eltern. Zudem setzten wir auf Präventionsarbeit in der Schule, im Jugendtreff und in der Kirche. Wir holten auch Experten aus anderen Projekten dazu und haben mit Antigewalt-Trainings und Deeskalationsübungen versucht, ein Klima zu schaffen, das Gewalt und Rassismus den Nährboden entzieht.

Sie sprachen von ersten Anfeindungen. Wann haben Sie diese zum ersten Mal hautnah gespürt?

Der runde Tisch stieß nicht nur auf Zustimmung. Plötzlich klebten Aufkleber mit dem Hakenkreuz an unserer Kirchentür. Ein paar Wochen später standen nachts Neonazis vor dem Pfarrhaus und brüllten Parolen wie „Juden raus“ – beim ersten Mal. Beim zweiten Mal noch krasser: „Am Kreuz soll kein Jude hängen, sondern ein Arier.“ Jürgen Rieger versuchte danach, an mehreren Orten in Niedersachsen neue Schulungszentren aufzubauen. Doch jedes Mal gab es Widerstand: Es gelang ihm nicht, diese Zentrums-Ideen weiterzuführen. Dann überschritt Rieger jedoch eine empfindliche Grenze: 2009 ließ er Mitglieder der Neonazi-Kameradschaft „Celle 73“ das Landhotel Gerhus in Faßberg bei Celle besetzen. Sie wollten wieder ein Schulungszentrum mit 50 Zimmern und 200 Betten einrichten und daneben einen Campingplatz für Zeltlager nutzen. Das wäre quasi Hetendorf 2.0 geworden — nur acht Kilometer von uns entfernt.

Wie haben Sie auf diese Hotelbesetzung reagiert?

Zunächst waren wir wie gelähmt. Dann ergriff Anna Jander, eine Frau aus der direkten Nachbarschaft, die Initiative und meldete die erste Mahnwache an. Am ersten Tag waren wir 12 Personen, am siebten Tag bereits 350. Täglich standen wir vor dem Hotel und protestierten. Zehn Tage nach der Besetzung ordnete schließlich das Landgericht Lüneburg an, dass die Nazis das Hotel unverzüglich räumen mussten. Eine halbe Stunde bekamen sie Zeit, um zu gehen. Wir blieben, bis der letzte Neonazi das Haus verlassen hatte, und feierten danach — darüber berichteten sogar die Tagesthemen.

Haben rechtsextreme Gruppen daraufhin ihre Aktivitäten verstärkt, um sich an Ihnen zu rächen?

Ja, leider. Am nächsten Tag trudelten sofort heftige Drohungen im Internet ein. Als dann Jürgen Rieger zwei Monate später an den Folgen eines Schlaganfalls starb, konnten die Neonazis nicht mehr auf das Geld zugreifen, das Rieger für den Kauf des Hotels vorgesehen hatte. Die Beschimpfungen und Drohungen gegen uns nahmen daraufhin weiter zu. Der Höhepunkt war 2011 ein Brandanschlag auf unser Pfarrhaus. Ein Molotowcocktail verfehlte das Küchenfenster nur um knapp 30 Zentimeter. Die Flammen ragten zwei Meter hoch — eine echte Gefahr. Zusätzlich wurde mein Auto beschädigt, als jemand die Scheibe einschoss und einen Stein in die Tür warf. Das Auto einer weiteren Mitstreiterin wurde mit einem Hakenkreuz zerkratzt und mit „rote Sau“ beschmiert.

Wie hat sich daraus schließlich das Netzwerk Südheide gegen Rechtsextremismus entwickelt?

Nach dem versuchten Neonazi-Kauf des Landhotels Gerhus gründeten wir das Netzwerk im Jahr 2009. Es ist ein bürgerschaftliches Bündnis mit 17 ehrenamtlich Aktiven und über 700 solidarisch erklärten Unterstützern. Wir sind kein Verein, sondern organisieren uns frei und finanzieren alles durch Spenden. Unsere zentrale Aufgabe ist es, die Öffentlichkeit über rechtsextreme Aktivitäten in der Region zu informieren.

Wo liegen die aktuellen Brennpunkte in der Südheide?

Mindestens dreimal im Jahr finden auf dem Hof Nahtz in Eschede große Neonazi-Treffen statt — zum Beispiel Sonnenwendfeiern und ein Erntefest. Offiziell verkaufen sie das als harmloses Brauchtum. Tatsächlich sind das Vernetzungstreffen, bei denen neonazistische Gruppen Termine absprechen und Strategien festlegen. Sobald Neonazis ungestört agieren können, verfestigt sich ihre Szene, und sie werben aktiv um junge Leute. Von diesen Treffen wissen wir erst seit 2007, obwohl es sie seit mindestens 30 Jahren gibt. Vor wenigen Jahren fanden dort zum Teil bis zu 300 Teilnehmer Platz; beim Rechtsrock-Konzert waren es 600. Der Landwirt Joachim Nahtz, der den Hof lange zur Verfügung stellte, hat das Anwesen mittlerweile an den Landesverband der NPD in Niedersachsen verkauft, der sich inzwischen „Die Heimat“ nennt. Dort sollen offenbar neue Strukturen aufgebaut werden — ähnlich wie damals in Hetendorf. Wir protestieren regelmäßig und veranstalten Mahnwachen vor dem Hof. Dazu laden wir immer wieder prominente Gastredner ein — darunter war schon unser Ministerpräsident Stephan Weil, Kultusministerin Julia Willie Hamburg, oder Margot Käßmann.

Sie betonen explizit, dass Rechtsextremismus und christlicher Glaube für Sie unvereinbar sind. Können Sie uns erklären, warum das Ihrer Ansicht nach so ist?

Da gibt es mehrere Gründe. Erstens: Vor Gott sind alle Menschen gleich. Rechtsextreme stellen auf Ungleichwertigkeit ab, also Hautfarbe, Religion, Herkunft. Zweitens ist die Kirche von Anfang an multikulturell und offen für alle, das widerspricht rassistischen Ausschlussmechanismen. Drittens ist Antisemitismus untrennbar mit dem rechtsextremen Weltbild verbunden, während wir Juden in besonderer Weise achten, denn Jesus selbst war Jude. Viertens verurteilt die Kirche Fremdenfeindlichkeit; schon im Alten Testament wird der Umgang mit Fremden und ihre Gleichstellung eingefordert. Fünftens steht der Protestantismus für demokratische Strukturen, während Rechtsextreme autoritäre oder diktatorische Herrschaftssysteme bevorzugen. Und sechstens setzt die Kirche auf Frieden und Gerechtigkeit — Rechtsextreme hingegen sehen häufig Gewalt als Lösung. Demgemäß haben wir 2010 die Initiative „Kirche für Demokratie – gegen Rechtsextremismus“ gegründet, mit dem Motto „Unser Kreuz hat keine Haken“. Wir benennen rechtsextreme und menschenfeindliche Haltungen innerhalb und außerhalb der Kirche und treten ihnen entschlossen entgegen. Wir wollen einen Beitrag leisten, damit sich demokratisches und menschenfreundliches Denken entwickelt und ausbreitet.

Sie haben erschreckende Beispiele von Straftaten genannt, darunter auch Morde. Wie sieht die Lage aktuell im Hinblick auf extrem rechte Gewalt aus?

Sehr alarmierend. Immer wieder werden größere Waffenarsenale bei Rechtsextremen gefunden. Etliche rechtsterroristische Gruppierungen sind in den vergangenen Jahren aufgeflogen, zum Beispiel die Prepper-Gruppe „Nordkreuz“ mit Todeslisten und konkreten Anschlagsplänen. Allein diese Gruppe hatte 25.000 Namen aufgelistet, darunter 2200 Personen aus Niedersachsen. Dort fand man 200 Leichensäcke und Ätzkalk, mit dem man Leichen unkenntlich machen wollte. Auch in unserer Region gab und gibt es Razzien, zum Beispiel in Munster oder im Landkreis Uelzen, wo Personen aus dem militanten Spektrum festgenommen wurden. Manche von ihnen wollen sich auf einen „Tag X“ vorbereiten, Deutschland ins Chaos stürzen und Andersdenkende oder Andersgläubige töten. Nicht umsonst nannte der damalige Bundesinnenminister Horst Seehofer den Rechtsextremismus „die größte Bedrohung für Deutschland“. Seine Nachfolgerin Nancy Faeser drückt es sehr ähnlich aus: „Der Rechtsextremismus ist zurzeit die größte Bedrohung unserer Demokratie.“

Was wünschen Sie sich angesichts dieser bedrohlichen Entwicklungen von Politik und Gesellschaft?

Es braucht in aller Deutlichkeit klare Worte und ein rigoroses Vorgehen gegen militante Rechte und deren Strukturen. Rechtsstaatliche Instrumente müssen konsequent genutzt werden. Man darf nie vergessen, dass seit 1990 laut Amadeu-Antonio-Stiftung 220 Menschen durch rechtsextreme Gewalttaten ums Leben gekommen sind. Nächstenliebe verlangt Klarheit — das ist ein Motto der evangelischen Kirche gegen Rechtsextremismus. Wir brauchen klare Positionen und Engagement, wo immer rechtsextreme Hetze auftritt. Jeder Einzelne von uns sollte handeln, bevor es zu spät ist. Es bleibt zu hoffen, dass wir gemeinsam wachsam bleiben und uns nicht entmutigen lassen. Nur so können wir rechtsextremen Strukturen etwas entgegensetzen.

Daniel Herzig2 Comments