Miss Marple 2.0
Leicht morbides Hobby: Im Internet verbringen Freizeitdetektive viel Zeit damit, gemeinsam über alte unaufgeklärte Verbrechen zu rätseln und Theorien zu diskutieren. Foto: Adobe Stock
Von der unvergesslichen Miss Marple bis zu Jessica Fletcher aus der US-Fernsehserie „Mord ist ihr Hobby“: Geschichten von Freizeitkriminalisten, auffällig oft Frauen, die mit Scharfsinn, Leidenschaft, Mut und unkonventionellen Ermittlungsmethoden Verbrecher zur Strecke bringen, faszinierten schon immer viele Menschen. Sie haben ihren festen Platz in der Populärkultur. Im Internetzeitalter eröffnen sich heutigen Hobbydetektiven freilich Möglichkeiten, von denen Krimiautorin Agatha Christie beim Erschaffen ihrer Romanfigur Miss Marple vor fast 100 Jahren noch nicht zu träumen gewagt hätte. Im Netz hat sich eine gut vernetzte True-Crime-Szene etabliert, mit Foren und Chatrooms, im ständigen Austausch über ungelöste Kriminalfälle, mögliche Täter und Motive. Die Böhme-Zeitung hat sich in der manchmal belächelten, von professionellen Ermittlern durchaus kritisch beäugten Onlineszene einmal umgesehen. Welche Verbrechen mit Bezug zum Heidekreis stehen bei den Hobbyermittlern hoch im Kurs?
Beim Durchforsten populärer Foren wie Hobby-Ermittler-Team und allmystery sticht besonders ein Cold Case aus dem Heidekreis hervor, der inzwischen ein gutes Vierteljahrhundert zurückliegt, über den aber bis heute recht lebhaft diskutiert wird. In den Foren ist vom „Soltau-Mord“ die Rede, weil die Ermittlungen bei der Soltauer Polizei lagen und deren damaliger Kriminalhauptkommissar Wolfgang Baron, inzwischen pensioniert und heute ehrenamtlicher Leiter der Außenstelle der Opferschutzorganisation Weißer Ring im Heidekreis, den Fall am 18. April 2000 in der Fernsehsendung XY ungelöst präsentierte. Der Tatort befindet sich aber in der Gemeinde Bispingen. Es handelt sich um den nie aufgeklärten Mord an Jutta H.
Die damals etwa 41-Jährige stammte aus dem nördlich von Neumünster gelegenen Städtchen Notorf und absolvierte zum Tatzeitpunkt einen dreiwöchigen Kurklinikaufenthalt in Soltau. Am Sonnabend unternahm sie allein einen Ausflug zum Wilseder Berg, wo sie letztmalig und in Begleitung eines Mannes lebend gesehen wurde. Einen Tag später, am 29. Mai 1999, fand ein Schäfer im Naturschutzgebiet bei Niederhaverbeck unweit des Wilseder Bergs ihre Leiche. Neben der bis heute ungeklärten Frage nach der Identität ihres Begleiters gibt auch die Auffindung ihres Autos Rätsel auf.
Mutmaßlich nutzte der Täter diesen Pkw nach dem Mord, um nach Soltau zu fahren. Dort stellte er den Opel unweit der Kurklinik am Kreiskrankenhaus ab und verschwand, wobei er den Lederrucksack seines Opfers mit Schlüsseln und persönlichen Gegenständen mitnahm.
Lücken im Wissen laden zu Spekulationen ein
In den Foren der Hobbyermittler wird darüber spekuliert, ob sich Opfer und Täter zufällig in der Natur begegneten oder ob sie sich bereits kannten, vielleicht ein Kurschatten oder ein Wochenendbesucher aus ihrer schleswig-holsteinischen Heimat? Auch das Tatmotiv wird diskutiert, vom Raubmord über einen sexuellen Übergriff bis zur Mordlust eines Psychopathen wird alles aufgerufen.
Offiziell aufgeklärt wurden die Hintergründe des Verbrechens nie, so bleibt viel Raum für Mutmaßungen. Das geht so weit, dass sogar Verbindungen zum mutmaßlichen Serientäter KurtWerner Wichmann hergestellt werden – obwohl dieser 1993 in der Untersuchungshaft Suizid beging und als Mörder von Jutta H. somit ausscheidet, trotz gewisser Parallelen im Modus Operandi. Auch Wichmann soll Autos seiner Mordopfer genutzt haben. Spekuliert wird über einen unbekannten Mittäter Wichmanns. Der könnte natürlich theoretisch auch für das Verbrechen von 1999 verantwortlich sein. Oder der Täter ist „ein Trittbrettfahrer aus der Region“, wie ein User spekuliert, „den die Darstellung der Göhrde-Morde eventuell zur Tat angeregt hatte“. In den Foren mit ihren endlos weitergestrickten Theorien kann man sich schnell verlieren.
Der Heidekreis taucht in den Crime-Foren aber auch an anderen Stellen in Zusammenhang mit Wichmann auf. Allgemein zugerechnet werden ihm die „Göhrde-Morde“ mit vier Opfern und die Tötung von Birgit Meier, spekuliert wird aber nicht nur von Hobbyermittlern, dass das nur die Spitze des Eisberges sein könnte. Immer wieder, zuletzt in der mehrteiligen ARD-Dokumentation Der Menschenjäger wird Wichmann mit zahlreichen weiteren ungeklärten Morden und Sexualstraftaten in Verbindung gebracht.
Eine Frau schildert, dass Wichmann sie 1990 bei einer nächtlichen Autofahrt in Soltau äußerst bedrohlich verfolgt habe . Im Nachklang zu dem BZ-Beitrag berichtete eine heute noch im Heidekreis lebende Frau von mutmaßlichen Begegnungen mit Wichmann im damaligen Tanzclub Welcome in Hützel. Ausgiebig wird diskutiert, ob es in Ordnung sei, einem bereits Verstorbenen, der sich „nicht mehr wehren kann“ und gegen den die Staatsanwaltschaft nicht mehr ermitteln darf, unaufgeklärte Verbrechen zuzuschreiben.
Soldatenmord von Munster in Foren kaum bekannt
Kaum Erwähnung in den Foren findet übrigens der ungeklärte Soldatenmord von Munster vom 29. Februar 1992. Er taucht allenfalls kurz in Verbindung mit einem anderen Soldatenmord auf, der sich drei Jahre zuvor in Köln ereignet hatte und umfangreich diskutiert wird – wohl deshalb, weil der Fall ebenso wie der von Jutta H. in der Fahndungssendung XY ungelöst prominent behandelt wurde. Der erfahrene Moderator Rudi Cerne spricht in der Sendung von „eines der rätselhaftesten Verbrechen, von denen ich je gehört habe“ – natürlich eine Einladung für die in kriminalistische Rätsel verliebten Crime-Foristen, eigene Theorien zu entwickeln.