Lauter Fluchtgeschichten, die in Soltau enden

Die Vertreibung der Deutschbalten bildete den Auftakt umfangreicher nationalsozialistischer Umsiedlungsaktionen. Die Aufnahme aus dem Jahr 1940 zeigt das Baltenlager in Posen, in dem Flüchtlinge aus Lettland und Estland anlandeten. Foto: Wikipedia/Bundesarchiv; Adobe Stock

80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind es nicht mehr viele, aber es gibt sie noch: Zeitzeugen, die aus eigener Erfahrung vom NS-Regime und von Flucht und Vertreibung der gewaltvollen ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts berichten können. In der Wanderausstellung „Schau mich an – Gesicht einer Flucht“ bilden ihre Erzählungen den Ausgangspunkt für eine biografische Vermessung des Themenkomplexes Flucht und Vertreibung bis in die Gegenwart hinein. Vom 26. April bis zum 26. Juni 2026 gastiert die Ausstellung im Soltauer Heimatmuseum. Vorbereitungen laufen schon, denn gezeigt wird eine um lokale Protagonisten erweiterte Ausstellung. Dazu werden in Soltau gerade Interviews geführt. Beleuchtet werden höchst individuelle Schicksale, die eines eint: Es gibt in diesen Leben ein „davor“, in dem Soltau keine Rolle spielte. Die Menschen erreichten die Stadt als Geflüchtete – und blieben.

Die Portraitierten stammen aus unterschiedlichen Zeiten und Regionen. Die vier ältesten berichten von ihrer Umsiedlung und Vertreibung während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Eines dieser „Gesichter der Flucht“ gehört Irene Bomblat. Sie erblickte am 28. November 1925 in der lettischen Hauptstadt Riga das Licht der Welt und begeht somit am Freitag in der Soltauer Seniorenresidenz Haus Zuflucht ihren 100. Geburtstag. Um den möchte sie kein großes Aufsehen machen. Ein ganzes Jahrhundert erlebt zu haben, scheint ihr fast ein bisschen zu gewaltig zu sein. „Ich stehe im Leben“, sagt sie und möchte lieber über die Zukunft als über Vergangenes reden. Dann kommt sie doch noch ein bisschen ins Plaudern über ihre Biografie, die für heutige Ohren ungewöhnlich klingt und doch typisch ist für die Geschichte der Baltendeutschen. Die Zeitzeugin sprach für die Ausstellung auch schon mit Pastor i. R. Gottried Berndt, den die ehemalige Apothekenhelferin seit über 40 Jahren kennt. Zudem hat sie ihre Lebenserinnerungen aufgeschrieben – ein Fundus, aus dem geschöpft werden kann.

Hitler-Stalin-Pakt zwingt Baltendeutsche „Heim ins Reich“

Bomblat entstammt der Familie Neppert, die seit Jahrhunderten im Baltikum siedelte. Der Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939 beendete das abrupt – er markiert den Beginn der Vertreibungen dieser Zeit. Deutschbalten, die nicht ihre deutsche Staatsangehörigkeit ablegen und unter sowjetischer Herrschaft leben wollten, wurden „Heim ins Reich“ umgesiedelt, meist in deutsch besetzte polnische Gebiete.

Bomblats Teenagerzeit bestand aus drei Fluchten: zunächst mit der „Graf Steuben“ nach Gotenhafen (Gdynia) und weiter in den Warthegau. Bis dort im Januar 1945 russische Panzer anrollten. Die zweite Flucht führte bei klirrender Kälte bis nach Wörlitz in Sachsen-Anhalt. Nach Kriegsende die dritte und letzte Flucht: Über die grüne Grenze aus der sowjetischen Besatzungszone zu Verwandten nach Schneverdingen.

Schau mich an – Gesicht einer Flucht

Die Wanderausstellung „Schau mich an – Gesicht einer Flucht“, die 2026 auch im Soltauer Heimatmuseum gezeigt wird, entstand aus einem Projekt des Asylkreises Haltern am See, das Fluchtbiografien aus dem Ruhrgebiet gewidmet war. In Soltau werden ergänzend Schicksale von Geflüchteten erzählt, die in der Böhme-Stadt ihre zweite Heimat fanden. Manche kamen vor 80 Jahren, andere flüchteten während der Balkankriege, aus der DDR oder in jüngerer Zeit aus Syrien. Noch gesucht würden Boat People mit vietnamesischen Wurzeln sowie weitere Menschen, die über die deutsch-deutsche Grenze flüchteten und heute in Soltau leben, sagt Pastor i. R. Gottfried Berndt. Kontakt kann über das Heimatmuseum hergestellt werden.