Allein auf der A7

Stolz und erhaben: ein Damhirsch.

Kaum etwas weiß man über René. Dass er mit dem einfachen Leben vorliebnimmt, ist bekannt. Möglichst wenig Trubel, einsam, samt Faible für die Natur. Als echtes norddeutsches Original, das er ist, erscheint das auf den ersten Blick nicht ungewöhnlich. Tritt er hin und wieder dann doch unter Leute, hinterlässt er stets einen kräftigen Eindruck. Dennoch läutet bei der Soltauer Polizei regelmäßig das Telefon. Die Menschen sorgen sich. Wieder ist René aufgetaucht – besser rasch handeln, bevor Schlimmeres passiert. Polizeibekannt ist der Umtriebige deshalb zwar längst, aber ohne gravierende Gefahrenlage sind den Beamten die Hände gebunden.

Auch ich kam nicht umhin, in Panik zu verfallen, als ich René zum ersten Mal sah. Im Begriff, von der Anschlussstelle Soltau Süd auf die A7 in Richtung Hannover aufzufahren, musste ich perplex gleich zweimal hinschauen. René stand auf dem Grünstreifen an der Abfahrtsspur: das Geweih riesig, der Körper weiß gepunktet. Ein prächtiger, großgewachsener Hirsch.

Seit zwei Jahren arbeite ich inzwischen im Heidekreis für die BZ. Unzählige Kilometer durch Waldstücke, über Landstraßen, und natürlich über die A7, haben sich so auf dem Tacho meines Kleinwagens angesammelt. Waschbären, Biber, Otter, Füchse, Rehe – sogar einen Wolf habe ich dabei zu Gesicht bekommen. Aber keinen Hirsch. Angesichts der unverhofft imposanten Begegnung mit dem „König des Waldes“ (auch wenn es sich hier um einen Damhirsch und keinen Rothirsch handelt) schoss mir als klassischem Stadtmensch neben der Angst angesichts der Unfallgefahr eines Unfalls zugleich ehrfürchtige Euphorie ins Blut.

Dem mir entgegenkommenden Autofahrer gab ich prompt per Lichthupe und hastig gestikulierend zu verstehen, er möge sein Tempo drosseln. Zu schlecht ist die Kurve von der A7 kommend einsehbar; zu groß die Gefahr, der Hirsch könnte mit dem Wagen kollidieren. Im Rückspiegel konnte ich gerade noch erkennen, wie der Fahrer mit rotem Bremslicht am Wild vorbeirollte.

„Gefühlt 300 Anrufer pro Monat“

So selten man selbst die Nummer der Polizei wählt, überlegte ich auf der A7 unsicher, was zu tun sei. Frei nach der Devise „Lieber Vorsicht als Nachsicht“ hielt ich an der nächsten Parkbucht. Ich hatte den Grund meines Anrufes nicht ausformuliert, schon vermutete der Polizist: „Sie rufen wegen des Hirsches an?“ Verdutzt bejahte ich. Es sei immer dieselbe Stelle, an der sich das Tier aufhalte, erklärte der Ordnungshüter hörbar belustigt. „Gefühlt sind es 300 Anrufer pro Monat, die sich bei uns melden.“

Als Reporter im Heidekreis liegt es auf der Hand, solch einer skurrilen Geschichte nachzugehen. Und tatsächlich: Auch Dennis Frede, stellvertretender Polizeisprecher im Heidekreis, bestätigt: Der Hirsch scheint sein Revier an der Anschlussstelle Soltau Süd etwa vor zwei Jahren bezogen zu haben und seitdem gar nicht in Betracht zu ziehen, es aufzugeben. „Wir haben ihn über die letzten Jahre dort aufwachsen sehen. Passiert ist bisher aber noch nichts.“

Seit die Polizei Kenntnis von dem Hirsch hat, habe er bereits zwei Geweihwechsel hinter sich. An der Autobahnabfahrt scheint das Gras besonders gut zu schmecken. Das Tier halte sich vor allem dort relativ häufig auf, erklärt Frede. „Teilweise auch liegend, sodass manche Autofahrer davon ausgehen, er sei tot.“ Schlecht scheint es ihm also nicht zu ergehen. Aus dem regen Verkehr macht er sich offenkundig nichts.

„Er hat sogar einen Namen“, verrät Frede. „René – darunter kennen ihn inzwischen auch alle. Selbst, wenn Sie den Notruf wählen, sind die Kollegen im Bilde.“ Trotzdem würden die Polizisten hin und wieder nach Meldung hinausfahren, um sicherheitshalber nachzuschauen.

Es liegt auf der Hand, dass ich nun jedes Mal damit rechne, René beim Abfahren in Richtung Hannover noch einmal kurz beim Grasen beobachten zu dürfen. Inständig hoffe ich, dass er seine bisherige Unversehrtheit nicht Glück und Zufall verdankt, sondern sich darüber im Klaren ist, welch gefährliche Umgebung er offenbar sein Zuhause nennt. „Nach unserem Kenntnisstand“, versichert Frede, „ist er bisher noch nie auf die Straße gelaufen.“

Wer also wie gewohnt mit dem Auto die Auf- oder Abfahrt zur Autobahn nutzt: Fahren Sie im Zweifel doch lieber etwas achtsamer als ohnehin schon. René wird es Ihnen ganz bestimmt danken.